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Das Geistliche Wort | 16.03.2025 | 08:40 Uhr
„Von Sternstunden und Tiefpunkten und von dem, was uns Herausforderungen bestehen lässt“
Unvergesslich: Ein Erlebnis in meinem letzten Urlaub in Mecklenburg-Vorpommern. Ich war mit dem Kajak auf einem See unterwegs in unberührter Natur. Die Sonnenstrahlen erzeugten auf dem Wasser wunderbare Lichtspiele. Wenige weiße Wolken zogen am blauen Himmel vorüber. Ich war ganz und gar in diesem Augenblick, umfangen von einer zauberhaften Atmosphäre, von einer Stille, die mich tief erfüllte. Für mich war das „Glück pur“. Unvergesslich!
Diese Erfahrung hat mich tief geprägt. Dabei war sie total überraschend, weil ich gar nicht mit ihr gerechnet habe. Vielleicht vergleichbar mit dem Moment, wo sich jemand unsterblich verliebt oder in ein Buch eintaucht und dabei Raum und Zeit vergisst oder wenn ein Musikstück so überwältigt, dass einem im wörtlichen Sinn Hören und Sehen vergeht. Es sind außergewöhnliche Glücksmomente: lebendig, aufregend, berauschend, Hochzeiten des Lebens oder – um es anders zu formulieren: Gipfelerfahrungen. Und mich berühren sie und ich empfinde sogar dann eine tiefe Ehrfurcht, weil es um Großes geht. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich schon lange nach solchen Gipfelerfahrungen gesehnt habe, ohne es vorher gewusst zu haben.
MUSIK I: Gavin Sutherland, Sailing (Cindy and Bob Singers; The Pets and The Clappers)
Ja. Es gibt diese außergewöhnlichen Gipfelerfahrungen, die man nicht mehr vergisst. Es war der amerikanische Psychologe Abraham Maslow, der solche überwältigenden Erfahrungen eben „Peak Experiences“ – „Gipfelerfahrungen“ nannte.[1] Er beschreibt sie als Momente intensiver Freude, Euphorie, Transzendenz und tiefen persönlichen Glücks. Wichtige Merkmale solcher „Peak Experiences“ sind für ihn ihre Intensität. Und je höher die Intensität, desto tiefer das Glücksgefühl. Bei mir war es die Verbindung mit der Natur im Kajak auf dem sonnenbeschienen See, die mich mit ekstatischer Freude erfüllte. Zeitvergessen hatte ich den Eindruck, ganz im Augenblick zu leben. Alles um mich herum schien verändert.[2]
Abraham Maslow beschreibt es in etwa so: Wenn wir Gipfelerfahrungen machen, dann fühlen wir uns vollständig und ganz. Genau das macht sie so wertvoll. Wir sehen die Welt in einem neuen Licht. Aus diesem Grund können uns Gipfelerfahrungen nachhaltig verändern und uns sogar liebevoller und verständnisvoller werden lassen. Sie haben das Potenzial, langfristig positiv in uns nachzuhallen…[3]
An Abraham Maslow muss ich denken, wenn an diesem Sonntag in den katholischen Kirchen ein Text aus der Bibel vorgelesen wird, denn da geht es um genau so eine Gipfelerfahrung. Es ist die sogenannte Verklärung Jesu auf einem Berg. Die Geschichte geht so:
In jener Zeit nahm Jesus Petrus, Johannes und Jakobus mit sich und stieg auf einen Berg, um zu beten. Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiß. Und siehe, es redeten zwei Männer mit ihm. Es waren Mose und Elija;?sie erschienen in Herrlichkeit und sprachen von seinem Ende, das er in Jerusalem erfüllen sollte. Petrus und seine Begleiter aber waren eingeschlafen, wurden jedoch wach und sahen Jesus in strahlendem Licht und die zwei Männer, die bei ihm standen.
Und es geschah, als diese sich von ihm trennen wollten, sagte Petrus zu Jesus: Meister, es ist gut, dass wir hier sind. Wir wollen drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. Er wusste aber nicht, was er sagte.
Während er noch redete, kam eine Wolke und überschattete sie. Sie aber fürchteten sich, als sie in die Wolke hineingerieten.?Da erscholl eine Stimme aus der Wolke: Dieser ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.?Während die Stimme erscholl, fanden sie Jesus allein. Und sie schwiegen und erzählten in jenen Tagen niemandem von dem, was sie gesehen hatten.[4]
Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Gipfelerfahrung, die Jesus da macht. Mag sie vielleicht ziemlich abgehoben und ein wenig märchenhaft erscheinen, aber ich glaube, wir brauchen heute solche Geschichten. Sie sind so wichtig, weil sie an solche Erfahrungen erinnern – wie an die überwältigende Erfahrung in meinem Urlaub. Dabei geht es nicht darum, sich mal eben aus der Realität wegzuträumen, sondern tiefer zu blicken. Es geht um eine Art seelisches Gegengewicht angesichts der vielen Katastrophennachrichten, die tagtäglich über uns hereinbrechen. Seit Jahren die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine, im Nahen Osten und an so vielen Orten dieser Welt. Oder das Dauerthema der Klimakatastrophe, die auch hier in Deutschland immer unmittelbarer und deutlicher zu spüren ist. Wir brauchen Geschichten und besser noch eigene Erfahrungen, wo es darum geht, aus dieser Welt herauszufallen – und sei es nur für kurze Zeit. Wir brauchen sie deshalb, weil solche Geschichten und Erfahrungen eine Art Protest sind gegen menschenverachtendes Denken, Sprechen, Handeln und Fatalismus. Die Geschichten und Erfahrungen stehen gegen unsere Ohnmacht und gegen unsere Resignation.
MUSIK II: Rolf Lovland; Fionnuala Sherry, The Rap (Secret Garden)
In meinem Umfeld erlebe ich aktuell viele Menschen, die sich ohnmächtig und resigniert fühlen. Bei vielen nehme ich sogar Angst wahr. Und es sind nicht nur die ganz großen Themen dieser Zeit und dieser Welt. Es sind auch die ganz konkreten, persönlichen Katastrophen, die unsicher und Angst machen. Ich selbst bleibe nicht davon verschont! Als Schulseelsorger musste ich den Tod eines unserer Abiturienten im letzten Jahr miterleben und dann ist da die Krebserkrankung einer jungen Kollegin. All das will ausgehalten und verarbeitet werden, wie auch Beziehungsprobleme, das zunehmende Alter, Enttäuschungen durch Familie, Freunde. Und ehrlich gesagt: all das belastet und verunsichert und kann nicht einfach ignoriert werden.
Ich sehe hier übrigens auch wieder Parallelen zum Leben Jesu. Denn bevor es zu seiner Gipfelerfahrung, der sogenannten Verklärung kommt, hat er sich mit schwierigen Problemen zu beschäftigen.
Jesu Verkündigung ist am Anfang ja noch sehr erfolgreich. Die Leute sind fasziniert von dem, was er sagt und wie er den Menschen begegnet: heilend und befreiend. Er fasziniert sie. In seiner Nähe fühlen sie sich ernstgenommen und angenommen. Aber das hält nicht an. Bald schon verändert sich die Situation: Widerstände stellen sich ein und werden schnell größer.
Da sind die religiösen Profis, Pharisäer und Schriftgelehrte, die ihn und seine Botschaft mehr und mehr in Frage stellen, die ihn regelrecht verhören, ihm auf den Zahn fühlen und Druck machen. Und auch die politischen Größen seiner Zeit werden auf ihn aufmerksam. Kurzum: die Situation wird für Jesus mehr und mehr prekär, ja lebensbedrohlich. Immerhin will man ihn von einem anderen Berg in die Tiefe stürzen.[5]
Übrigens: auch seine eigene Familie ist ganz und gar nicht begeistert von dem, was er sagt und tut, von seiner Wirkung auf die Massen. Sie kommen und wollen ihn nach Hause holen. „Er ist von Sinnen“[6], sagen sie über ihn.
Und so gerät Jesus selbst in die Krise. Er weiß nicht mehr weiter und ist verunsichert. So fragt er schließlich seine Jünger: „Für wen halten mich eigentlich die Leute?... Für Elija, Johannes den Täufer oder für sonst einen der Propheten „… antworten sie ihm. „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“[7], fragt er sie … Für mich ist das keine rhetorische Frage, sondern eine ganz ernst gemeinte. Jesus bekommt Selbstzweifel und hat Angst. Mit dieser Vorerfahrung zieht er sich zurück auf den Berg der Verklärung. Und ich würde sagen: Er tut Recht daran, denn in der Krise kann Rückzug das einzig Richtige sein, wenn man sich neu sortieren muss, wenn eine Neuausrichtung, eine neue Orientierung Not tut.
MUSIK III: Michel Legrand, Papa can you hear me (Barbra Streisand)
Als Jesus merkt, wie seine alten Sicherheiten wegbrechen und er verunsichert ist, zieht er sich zurück. Und diese Reaktion scheint mir ganz natürlich zu sein: Abstand, eine Unterbrechung, eine Auszeit tut gut, um einen neuen Blick, eine veränderte, eine weitere Perspektive zu gewinnen, um die eigene Situation in einem anderen, einem neuen Licht sehen zu können.
Die biblische Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg berichtet davon, dass auf einmal zwei Gestalten bei Jesus waren: Mose und Elija, zwei wichtige Persönlichkeiten in der Geschichte des Volkes Israel. Und diese Geschichte ist für Jesus ein ganz wichtiger Hintergrund seines Lebens. Mit ihr ist er von Kindheit an vertraut. Sie ist für ihn Fundament und Quelle. Daraus lebt er, darauf baut er seine menschenfreundliche Botschaft von der Gegenwart Gottes für diese Welt, für alle Menschen auf. Mose steht nämlich für die Gesetze des Judentums, will heißen: für die Weisung des Lebens. Hatte er doch die zehn Gebote von Gott auf dem Berg Sinai empfangen, um sie dem Volk Israel zu verkünden. Und Elija ist der Prototyp der Propheten, die den Willen Gottes verkünden, die immer wieder Gerechtigkeit und Freiheit von und für die Menschen einfordern und die daran erinnern: Gott geht immer mit seinem Volk mit, er ist ein Gott bei den Menschen. Auf diesem Fundament steht Jesus. Und genau das wird ihm auf dem Berg offensichtlich neu bewusst.
Das Wichtigste aber – scheint mir – ist die Erfahrung, die Jesus hier macht. Er erfährt: Ich bin Gottes geliebter Sohn. Bemerkenswert ist in der biblischen Erzählung: Eine Wolke überschattet das Ganze und umgibt ihn. Eine Wolke ist in der Bibel, im ersten Testament, immer ein Bild für die Gegenwart Gottes. Und mit der Wolke ist auch eine Stimme zu hören. Ich verstehe das so: Jesus erfährt und spürt: Ich bin geborgen und gehalten. Und so weiß er sich von Gott geliebt und getragen, im wahrsten Sinne des Wortes von IHM eingehüllt und umgeben. Das gibt ihm eine unerschütterliche Kraft und lässt ihn sein Leben und seinen Weg in einem neuen, einem anderen Licht sehen.
MUSIK IV: John Denver, Rocky Mountain high
Noch ein letzter Gedanke zu den Gipfelerfahrungen. Sie sind immer punktuelle Erfahrungen. Man kann sie nicht konservieren und festhalten. Das müssen Jesu Freunde, die mit ihm auf dem Berg sind, noch lernen, besonders Petrus. Denn der möchte diese Situation quasi zementieren. Er sagt: „Lass uns drei Hütten bauen.“
Ich kenne diese Erfahrung auch. Wie gerne würde ich die schönen und erfüllenden Momente in meinem Leben, die Erfahrungen des Glücks festhalten, wie ein Haus, das ich jederzeit betreten kann. Aber das geht nicht. Ich kann umgekehrt mich auch nicht wegträumen aus der konkreten Wirklichkeit mit all ihren Herausforderungen und sie damit verdrängen. Aber ich kann mich immer wieder an das erinnern, was mir Kraft gibt und was mich zuversichtlich und mit Hoffnung leben lässt. Ich kann mich an meine Gipfelerfahrungen erinnern, in denen ich gespürt habe, dass ich getragen und gehalten bin, egal wie meine konkreten Herausforderungen aussehen. Mir hilft das Wissen, von lieben Menschen, Freundinnen und Freunden getragen zu sein, von Menschen, die mich so annehmen wie ich bin und auf die ich mich absolut verlassen kann.
Und
genau deswegen ermutigt mich die Gipfelerfahrung Jesu auf dem Berg der
Verklärung, mich immer wieder meiner ganz persönlichen Gipfelerfahrungen zu
erinnern und sie sozusagen zu
reaktivieren. Ich möchte mich dann daran erinnern, aus welcher Kraft und
Zuversicht ich im tiefsten lebe und worin ich mich geborgen und geliebt weiß. Mehr
noch: Da war doch etwas, das mir eine Zuversicht und eine Hoffnung ins Herz
geschrieben hat. Da war doch jemand, dem ich diese meine überwältigenden
Erfahrungen verdanke. Und genau diese Erinnerung kann ich immer wieder
wachrufen in meinen Krisenzeiten. Sie kann mir helfen, die dunklen Erfahrungen
in dieser Welt und auch in mir in einem neuen, anderen Licht zu sehen.
MUSIK V: Diana Ross; The Supremes, Aint no mountain high enough
Mit dem Wunsch, dass Sie solche Gipfelerfahrungen machen und sie tief im Herzen bewahren, grüßt Sie ganz herzlich Pfarrer Frank Reyans aus Grefrath
[1] Vgl. https://www.abraham-maslow.de › peak-experiences.shtml .
[2] Vgl. https://www.abraham-maslow.de › peak-experiences.shtml .
[3] Vgl. https://www.abraham-maslow.de › peak-experiences.shtml .
[4] Lukas 9, 28b-36.
[5] Vgl. Lukas 4,29.
[6] Vgl. Markus 3, 21.
[7] Vgl. Markus 8, 27-29.