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Das Geistliche Wort | 20.04.2025 | 08:40 Uhr
Ostern - Die Unendlichkeit der Liebe
Ich wünsche Ihnen ein frohes und gesegnetes Osterfest!
Als Jugendlicher hatte ich einmal eine
schlaflose Nacht. Ich weiß nicht mehr genau, ob es an einem Film lag, den ich
gesehen hatte, oder an einer Unterrichtsstunde. Jedenfalls habe ich in dieser
Nacht versucht, mir die Unendlichkeit des
Universums vorzustellen. Aber, dies ist mir einfach nicht gelungen. Mein
kleines menschliches Gehirn scheint für dieses Gedankenspiel absolut nicht
geeignet zu sein. Immer wieder brauchte ich in meiner Vorstellung vom All eine
Grenze, einen Kasten, in den ich das Universum hineinstecken konnte. Und immer
wieder tauchte anschließend die Frage auf: Was ist denn außerhalb dieser
Grenze? Und ich weiß es heute noch: In dieser Nacht hätte ich beinahe meinen
Verstand verloren. Deshalb habe ich es danach nie wieder versucht. Aber diese
Nacht werde ich nicht vergessen und ich habe mir später dann auch erklären können,
warum ich das einfach nicht geschafft hatte, mir die Unendlichkeit vorzustellen:
In unserem täglichen Erleben gibt es in
allem Grenzen. Es gibt keine Grenzenlosigkeit, keine Erfahrung des Unendlichen.
Musik I: Don Mc Lean – Vincent
Oft denke ich mir: Was für ein faszinierendes Gebilde dieser Weltraum doch ist. Gerne schaue ich mir in den Nachtstunden das wunderschöne Sternenzelt an. Dabei ist es für mich immer ein absolutes Mysterium: Sterne, die wir am Abendhimmel mit bloßem Auge betrachten können, sind teilweise 1.000 Lichtjahre entfernt. Wenn einer dieser Sterne erlischt, würden wir das auf der Erde erst in 1.000 Jahren erfahren. Die Lichtstraße, die Galaxie, in der sich das Sonnensystem mit unserer Erde befindet, hat einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren und setzt sich aus geschätzt 100 bis 400 Milliarden Sternen zusammen.
Seit Menschengedenken gibt es die Frage, wie das Weltall, wie das Universum wohl beschaffen sei. Im Laufe der Jahrhunderte wuchsen die Möglichkeiten der Technik und damit die Erkenntnisse über die wahre Größe des Weltraums. Bis schließlich die genialsten Physiker ihrer Zeit im 20. Jahrhundert mit Hilfe der Relativitätstheorie und der Quantenphysik zu der These kamen: Das Universum ist unendlich.
Wie gesagt: Dies mir vorzustellen habe ich genau einmal versucht. Eine Nacht bin ich eingetaucht, die Unendlichkeit des Weltalls zu durchdenken. Es hatte mir den Schlaf geraubt. Diese Grenzenlosigkeit konnte ich nicht fassen.
Heute feiere ich Ostern. Und viele Christinnen und Christen auf der Welt feiern auch. Es raubt mir zwar nicht den Schlaf – wobei die Liturgien lang sind. Aber im Grunde feiern Christen ein Ereignis, in dem ebenfalls Grenzen überschritten werden: die Grenze des Todes, die Grenze der Liebe und die Grenze der Endlichkeit hin zur Unendlichkeit. An Ostern feiern Christen die Auferstehung Jesu von den Toten, drei Tage nach seinem Tod am Kreuz.
Musik II: Auferstehungssymphonie – Gustav Mahler 1. Satz 2
Ostern feiert Jesus als denjenigen, der Grenzen überschreitet. Das war
er aber nicht nur in Tod und Auferstehung. Die Evangelien berichten: Dieser
Jesus war auch in seinem Leben ein Grenzüberschreiter. Unzählige Male hat er
die Grenzen der gesellschaftlichen Konventionen eingerissen. Nun sind die Evangelien 2.000 Jahre alt. Und immer wieder hat es
Versuche gegeben, den Geist dieser Schriften zu übersetzen, auszufalten. Auf das
zu schauen, was hinter und neben dem Text spricht. Eine Meisterin darin war
Luise Rinser. Theologin und begnadete Schriftstellerin. Ihr Roman namens
„Mirjam“ von 1983 begleitet mich schon lange. Luise Rinser gelingt dabei eine deutende Erzählung der biblischen
Evangelien. Natürlich ist das alles Fiktion. Aber dennoch: Rinser-Fans nennen diesen
Roman auch „das 5. Evangelium“. Mirjam, die Ich-Erzählerin, ist in diesem Buch
die Frau, die in der Bibel als „Maria von Magdala“ bekannt ist. In Rinsers
Roman erzählt also eine Frau von Jesus. Endlich mal. Eine Frau, die ihn über
drei Jahre lang von Nazareth bis nach Jerusalem begleitet hat. Sie wird ihm zur
Vertrauten und ist ergriffen von Jesus und seiner Lehre. Schon ihre erste Begegnung beschreibt Luise Rinser als eine beidseitige
Grenzüberschreitung.Denn Maria, eine unverheiratete Frau, platzt mitten beim Essen in eine
Männerrunde. Ein Affront, eine Unverschämtheit.
Noch dazu scheint ihr Ruf ihr vorauszueilen als „die aus Magdala“, „die
mit dem bösen Blick“, „die Dämonin“.
„Wie, wenn ich einträte, uneingeladen, eine Frau, eine Fremde?... ich übersprang die Hürde, es musste sein, die Stunde war da, jetzt, oder aber nie: ich trat ein. Keiner hielt mich zurück. Es wurde nur sehr still im Raum, als hielten alle den Atem an. Da stand ich nun vor ihm.“[1]
Maria von Magdala hat ein Alabasterfläschchen mit äußerst kostbarem Öl bei sich. Mit diesem Öl wurden Könige gesalbt. Sie gießt das Öl auf Jesu Haar und über seine Füße. Und auf einmal füllt sich der Raum mit Wohlgeruch. Sie kniet vor ihm und weint bitterliche Tränen. Jesus lässt es zu, dass diese Frau ihn berührt und salbt. Er überhört, dass die anwesenden Männer mit Bestimmtheit auf die Ungehörigkeit hinweisen: „Weißt du nicht, wer die da ist?“ Doch damit nicht genug. Am Ende dieser Szene lädt Jesus Maria ein, sich ihm anzuschließen:
„Mirjam, (woher kannte er meinen Namen?) steh auf, sieh mich an, trockne deine Tränen. Mit diesen Tränen hast du dich reingewaschen… Der Rabbi wartete das Ende des Mahles nicht ab... Er winkte seinen Jüngern und mir, und wir gingen hinaus. …Die Männer aber …schauten bestürzt…Eine Frau an der Seite des Rabbi, und nicht die Ehefrau? Das ging doch nicht an…Ein Skandal. Einer von vielen, die ich später miterlebte…Ich kam. Ich blieb. Bis unters Kreuz folgte ich ihm. Bis heute bin ich die Seine“[2]
In Rinsers
Roman wird noch mal deutlicher, was in den Evangelien mitschwingt: Jesus – der
Grenzüberschreiter. Und so wundert es nicht, dass er sich eines Tages mit
seinen Anhängern in das heidnische Gebiet nach Tyros ans Meer aufmacht. Zur Zeit Jesu war
dies für gesetzestreue Juden eher ungewöhnlich. An der Küste lebten die Heiden.
Im Hinterland und ohne Zugang zum Meer die Juden. Daher kann ich nur ahnen, was
es für diese Menschen bedeutete, die bislang nur das Binnenland kannten, als
sie zum ersten Mal die unendliche Weite und scheinbare Grenzenlosigkeit des
Meeres sahen. Was für eine Horizonterweiterung! Rinser beschreibt diesen Moment
in ihrem Roman eindrücklich: Leichtigkeit, Heiterkeit, Entgrenztheit schwingt
da mit, wenn Jesus mit seinen Anhängern am Strand ist.
Eine Impression von unendlicher
Weitläufigkeit, die nur noch der Sternenhimmel in der Nacht zu vermitteln
vermag. Und ausgerechnet
an diesem Ort, mit weitem Horizont, wird Jesus in der Begegnung mit einer heidnischen
Frau etwas bewusst: Seine Berufung und damit das Heilswerk Gottes ist nicht auf
das Volk der Juden begrenzt. Die heidnische Frau bedrängt Jesus, ihre Tochter
zu heilen. Jesus entgegnet ihr, dass seine Sendung nur für die Israeliten
bestimmt sei. Diese Frau aber lässt nicht locker.
„Sie hatte so etwas Hartnäckiges, so wild Gläubiges, dass Jesus zurückwich. ..Simon sagte: Aber ihr Glaube, ihre Hoffnung! Wie kann er sie enttäuschen. Jesus sagte nichts, er schaute die Frau an, und sie schaute ihn an; es war zu sehen, dass sie ihm das Wunder abringen wollte, koste es was es wolle…Schließlich sagte er: Geh heim, Frau. Deine Tochter ist gesund.“[3]
In ihrem Roman lässt Luise Rinser ihre Erzählerin Jesus nicht von der Seite weichen, als er am Kreuz leidet und stirbt. Und damit macht Maria von Magdala eine Erfahrung, die leider eigentlich alle Menschen in ihrem Leben machen müssen – den tiefen Schmerz über den Tod eines geliebten Menschen.
„Ich setzte mich vor das Grab wie ein Hund, der seinen Herrn bewacht und nicht glaubt, dass der Herr tot ist… später dachte ich im Zurückerinnern: so lebt man im Schattenreich, wo die Sonne nie scheint. Noch später dachte ich: so lebt man ohne ihn.“[4]
Musik III: Auferstehungssymphonie – Gustav Mahler 5. Satz 10 Aufersteh´n, ja aufersteh´n wirst du
Im Johannesevangelium steht geschrieben, dass diese Maria von Magdala mit der Mutter Jesu unter dem Kreuz stand, als Jesus starb. Johannes beschreibt diese beiden als mutige Frauen, die nicht wie Jesus Freund Petrus aus Angst vor den Soldaten fliehen. Sie halten es sogar aus, ihn sterben zu sehen. Danach erfasst sie eine unendliche Leere. Luise Rinser schreibt den Frauen diese Sätze zu:
„Hat er nicht alles mit sich genommen, was uns zu gehören schien? Auch das Licht war fort, es war gewittrig und dunkel.“[5]
Alles ist genommen. Totale Dunkelheit. Auch Trauer kann grenzenlos sein. In Gesprächen mit trauernden Angehörigen höre ich oft dieselben Gefühlsregungen. Der Tod des geliebten Menschen erfüllt sie mit einer großen Leere und Dunkelheit und sie sind traurig über die Endgültigkeit dieses Abschieds.
In dem Roman von Luise Rinser setzt der Tod auch in den Augen Maria von Magdalas dem Leben Jesu einen absoluten Schlusspunkt; eine unüberwindbare Grenze. Dabei hatte gerade dieser Jesus in seinem Leben und Wirken so viele Grenzen überwunden. So oft hatte er seinen Zuhörern von der unendlichen und uneingeschränkten Liebe seines Vaters erzählt. Das sollte es jetzt gewesen sein?
Musik IV: Gabriel Faure Requiem – Pie Jesu
Natürlich beschreibt Luise Rinser in ihrem Roman auch die Erfahrung der Auferstehung. Schließlich gilt die Erzählerin im Roman, Maria von Magdala, auch in den Evangelien als die erste Zeugin.
„Ehe der Morgen dämmerte, war ich wach. Ich weckte Schulamit, die neben mir lag. Komm wir gehen zum Grab! Aber, was tun? Ich will zu ihm. Es war noch fast dunkel. Die Stadt schlief noch. So kamen wir zum Grab. Da sah ich im Olivenhain, in dem das Grab lag, zwischen den Bäumen einen Mann. Als er näher kam, hielt ich ihn für einen Arbeiter, einen Gärtner. Doch zu so früher Stunde? Ich wurde unsicher. Hatte ich Angst? Mein Herz schlug heftig. Der Mann kam noch näher. ‚Mirjam!‘ Das war seine Stimme. Da erkannte ich ihn. Rabbi! Ich fiel ihm zu Füßen und lachte und weinte in einem und war außer mir vor Freude. Aber als ich seine Knie umfassen wollte, wich er zurück. ‚Nicht so Mirjam, so nicht mehr und noch nicht.‘ Dann war die Stelle, an der er gestanden hatte, leer. Aber in mir brannte es.“[6]
Am Ostermorgen erfährt Maria von Magdala in dieser Begegnung, dass nicht einmal der Tod die unendliche Liebe Gottes begrenzen kann.
„Ich bin nicht wahnsinnig, und der Mann war kein Gespenst. Glaubs oder glaubs nicht: es war ER …ich habe ihn gesehen, er lebt, ich schwöre euch beim Ewigen: ich habe ihn gesehen und er lebt.“[7]
Maria von Magdala überwindet noch vor allen anderen sämtliche Zweifel. Als sie im Garten am Ostermorgen dem auferstandenen Jesus begegnet, ist für sie das Einreißen der Grenzen des Todes nur eine logische Konsequenz des gesamten Leben Jesus. Wie könnte denn dieser Jesus, der in seinem Leben immer wieder Grenzen durch Güte und Liebe eingerissen hat, im Tod eine Begrenzung erfahren? Die Liebe Gottes, so erfährt es Maria von Magdala an diesem Morgen, überwindet die Schranken des Todes.
Luise Rinser lässt zum Schluss ihrer Mirjam-Erzählung Jesus zwei Sätze sagen. Und die haben es in sich. Denn sie erklären, warum das Ostergeschehen von vor 2000 Jahren auch für uns heute noch von größter Bedeutung ist. Jesus sagt:
„Meine Liebe ist geduldig. Hochreißen möchte ich den Menschen, bis in die Sphäre des Höchsten möchte ich ihn ziehen mit der Macht meiner Liebe. Dorthin muss er gelangen, denn von dort stammt er.“[8]
Luise Rinser formuliert hier auf wunderbare Weise eine Quintessenz der gesamten Bibel. Der Ursprung und die Vollendung des Menschen liegen bei Gott. Seine Liebe will uns dazu ermutigen und befähigen, unnatürliche Begrenzungen zu erkennen und zu überwinden. Wer so lebt, der wird am Ende erkennen, dass Gottes Liebe grenzenlos ist und dass wir berufen sind zu einem Leben in seiner unendlichen Liebe. Die Nacht vor vielen Jahren, in der ich es nicht vermochte, mir die Unendlichkeit des Alls vorzustellen, hilft mir im Nachhinein, das Osterfest zu verstehen. Genauso, wie ich mir das grenzenlose All nicht vorstellen konnte, so werde ich es niemals schaffen, mir mit meinem kleinen menschlichen Verstand die Ewigkeit vorzustellen. Die Auferstehung Jesu ist für den modernen Menschen jenseits des Erklärbaren – hier gelangt der Mensch an seine Grenzen. Hier hilft kein technischer Verstand, hier hilft nur ein liebendes und glaubendes Herz. Das Osterfest lädt ein, der grenzenlosen Liebe Gottes zu vertrauen.
Musik V: Gabriel Faure Requiem – In Paradisum
Dass Sie diesen österlichen Glauben erfahren können, das wünscht Ihnen
Heiner Redeker, Gemeindereferent aus Fröndenberg!
[1] Luise Rinser Mirjam (S. Fischer Verlag 1983), S.52
[2] ebd. S 53
[3] ebd. S. 150/151
[4] ebd S.300/304