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Das Geistliche Wort | 19.06.2025 | 08:40 Uhr
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Was für eine Welt
Musik 1: Venite, Exultemus Domino (Performance Track)
Komposition: aus Taizé; Künstler: Annamária Kertész, Réka Szabó & Irén Móré; Album: Taizé: Instrumental, Vol. 2; Label: 2004 Ateliers et Presses de Taizé; LC: unbekannt
Autor (overvoice): „Wir dürfen nicht warten, bis die Menschen in die Kirche gehen. Sondern die Kirche muss zu den Menschen gehen.“ Was oft gefordert wird – heute passiert es. An vielen Orten machen sich Leute auf den Weg. Sie ziehen durch ihre Stadt oder ihr Dorf. Ein bunter Festzug mit Fahnen und Musik. Eine Großdemo des Glaubens. Auf dem Weg werden Altäre aufgebaut. Und Gottes Segen wird in die Welt getragen: Zu allen, die zusammen die Kirche bilden. Zu allen, die unser Land bewohnen. In die Natur. Und in die von Menschen gestaltete Welt.
Fronleichnam heißt dieses katholische Fest. Die Umzüge werden Prozessionen genannt. Bei ihnen soll nicht nur der Glaube in die Welt getragen werden, sondern Jesus Christus selbst. Deshalb wird eine gewandelte Hostie in einem geschmückten Behälter mitgeführt. Eine Oblate, wie sie beim Abendmahl verwendet wird. Nach katholischer Lehre ist Christus in der Hostie gegenwärtig. Mit der Prozession wird gezeigt: Jesus ist in dieser Welt. Heute. Hier. Ganz lebendig.
Musik 2: Venite, Exultemus Domino
Komposition/Künstler: aus Taizé; Album: Auf Dich Vertrau Ich; Label: 1999 Ateliers et Presses de Taizé; LC: unbekannt
Autor: Für mich ist es eine besondere Herausforderung, heute darüber zu sprechen. Ich bin Pfarrer in der evangelischen Kirche. Über Fronleichnam hat Martin Luther einmal gesagt, es sei das „allerschädlichste Jahresfest“. Die Prozession ist für ihn ein Schauspiel. Unbiblisch. Sogar Abgötterei. Dass das Brot auch nach der Abendmahlsfeier Leib Christi bleibt, hält er für eine Irrlehre. Nur wenn ich Brot und Wein im Gottesdienst empfange, ist Christus darin anwesend und verbindet sich mit mir.
Auf der anderen Seite ist das Fest ein wunderbares Zeichen. Jesus Christus lebt nicht nur in den Domen und Dorfkirchen. Er wohnt nicht nur in den Worten der Bibel. Und erst recht nicht nur im fernen Himmel. Sondern er ist mitten in dieser Welt. Ein großartiger Gedanke. Im Vergleich dazu gehört der theologische Streit in die zweite Reihe. Jesus hier und jetzt, in dieser Welt. Aber was ist das für eine Welt? Was machen wir gerade aus ihr?
Musik 3: Pipe and Tabor - Dansa (Ben Volgra S'esser Poges)
Komposition: Guirault d'Espanha de Toloza; Interpret: David Munrow & Early Music Consort of London; Album: Instruments of Middle Age and Renaissance; Label: 2007 by EMI Records Ltd./Virgin Classics; LC: 07873
Autor: Als das Fronleichnamsfest entsteht, findet gerade eine Zeitenwende statt. Vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter. Damals beginnt die Welt, wie wir sie heute kennen. Unsere Welt, die gerade wieder mitten in eine Zeitenwende gestürzt wird.
Damals endet das Hochmittelalter. Eine feudale Welt, die durch das adelige Militär bestimmt wird, die Ritter. Und in der keine Institution stark genug ist, die miteinander kämpfenden Einzelinteressen zu befrieden. Barbara Tuchman schreibt in ihrem Klassiker „Der ferne Spiegel“:
Sprecherin: „Das Rittertum war mehr als ein bloßer Verhaltenskodex für Liebe und Krieg, es war ein moralisches System, welches das gesamte Leben der Adligen bestimmte. Es entwickelte sich in der Zeit der großen Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts und zielte darauf, die religiösen Antriebe des Menschen mit den kriegerischen zu vereinigen und den kämpfenden Menschen mit der christlichen Lehre in Einklang zu bringen. […] Die Kirche musste eine moralische Fassade finden, die es einerseits der Kirche erlaubte, die Krieger mit ruhigem Gewissen zu tolerieren, andererseits den Kriegern ermöglichte, ihren Wertvorstellungen ohne Gewissensbisse zu dienen.“ (S. 69)
Autor: In dieser feudalen Welt entsteht das Fronleichnamsfest. Es geht zurück auf Visionen der Ordensfrau Juliana von Lüttich. Sie kommt zu der Überzeugung: Es braucht ein Fest, bei dem die Gegenwart von Jesus in der Eucharistie, im Abendmahl, verehrt wird. In dieser Zeit, am Anfang des 13. Jahrhunderts, beschließt das 4. Laterankonzil in Rom: Bei der Eucharistie bleiben Brot und Wein zwar äußerlich die bekannten Lebensmittel. Aber in ihrer Substanz werden sie dauerhaft zu Christi Leib und Blut. Und das bleiben sie auch nach der Abendmahlsfeier.
Musik 4: Bladder Pipes - Pastourelle (Au Tans d'aost), from the Chansonnier Cangé
Komposition: unbekannt, anon. 13th-century; Interpret: David Munrow & Early Music Consort of London; Album: Instruments of Middle Age and Renaissance; Label: 2007 by EMI Records Ltd./Virgin Classics; LC: 07873
Autor: Es ist eine Zeitenwende. An die Stelle der ritterlichen Kriegerwelt tritt im Spätmittelalter eine Kultur breiterer Volksschichten. Und langsam entstehen die Strukturen neuzeitlicher Staaten. In dieser Zeit wird aus Fronleichnam ein Volksfest. In Köln beginnt man 1264, den im Sakrament anwesenden Christus durch die Stadt zu tragen. Zu den Menschen, zu allem Volk. Nicht nur zu den Kriegern, zu Adel und Klerus, die die Welt unter sich aufgeteilt haben. Im 14. Jahrhundert verbreitet sich dieser Brauch in Europa.
Christus kommt in eine Welt, die sich wandelt. Eine Welt, die durch Krieg und Gewalt geprägt ist. Durch Ausbeutung, Seuchen und Tod. Aber auch eine Welt, in der sich eine Hoffnung verbreitet. Die Hoffnung, dass die feudale Kultur des Krieges und der mächtigen Oligarchen abgelöst werden kann. Dass das einfache Volk mehr Einfluss gewinnt. Und dass staatliche Strukturen entstehen, die der Gewalt und der Selbstbedienung der Mächtigen eine Grenze setzen.
Das Volk protestiert gegen den Missbrauch der Religion. Die Kirche ist nicht dazu da, Krieg und Ausbeutung zu rechtfertigen. Ein Klerus, der sich am Glauben des Volkes bereichert, ist eine Kaste von Schweinepriestern. Es braucht eine erneuerte, eine reformierte Kirche. Die die Wahrheit Christi in die Welt trägt, das Evangelium der Liebe.
Musik 5: Revolution
Komposition/Text: John Lennon/Paul McCartney; Album: The Beatles 1967-1970 (The Blue Album); Label: Universal; LC: 97777
Autor: Ich bin im Jahr 1968 geboren. Bin hineingewachsen in eine freiheitliche Welt. Keine heile Welt. Aber eine Welt mit starken demokratischen Strukturen, die sich in Skandalen und Krisen bewährt haben. Macht ist begrenzt und kontrolliert, es gibt eine freie Presse und unabhängige Gerichte. Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten immer wohlhabender geworden. Die Deutschen haben sich ihrer Schuld in den Weltkriegen gestellt. Und spätestens seit dem Fußball-Sommermärchen von 2006 zeigt unser Land der Welt ein entspanntes, buntes und tolerantes Gesicht. Ich habe mir nicht träumen lassen, dass unsere freiheitliche Demokratie so bald wieder unter Druck geraten kann. Und dass in so vielen Staaten der westlichen Welt autoritäre Bewegungen dermaßen stark werden.
Wieder leben wir in einer Zeitenwende. Aber sie zeigt in die umgekehrte Richtung. 800 Jahre nach dem Wirken der Juliana von Lüttich und dem Aufkommen des Fronleichnamsfestes versuchen mächtige Kräfte, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Immer neue Kriege. Die Ausbeutung der Welt durch eine kleine Schicht von Mächtigen. Und eine konsequente Propaganda, die die brutale Wirklichkeit auf den Kopf stellt. Getragen von einer missbrauchten christlichen Religion. Das sind die Merkmale des Hochmittelalters gewesen. Und genau dies kennzeichnet auch die autoritären Bewegungen, die heute der Welt den Stempel aufdrücken wollen.
Musik 6: New Beginning
Komposition/Text/Interpretin: Tracy Chapman; Album: New Beginning; Label: Elektra (Warner); LC: 00192
Autor: Zeitenwende: Ein Salto mortale in die Vergangenheit. Russland ist nach seinem kurzen Flirt mit der Demokratie wieder ein totalitärer Staat geworden. Präsident Putin versucht mit kriegerischer Gewalt, das Kolonialreich der Zaren- und Sowjetzeit wieder aufzubauen. Im Kaukasus. Auf der Krim. In der Ukraine. Dabei beruft er sich auf das Recht des Stärkeren, ganz im Geist des alten Imperialismus. Russland tritt auf als die Vormacht der slawischen, orthodoxen Welt. Dabei wird es unterstützt von der Führung der russisch-orthodoxen Kirche.
In Europa versuchen besonders die Regierenden in Ungarn, in der Slowakei, in Serbien, Nordmazedonien und Montenegro, in Italien und zeitweise in Polen nationalistische, autoritäre Regime aufzubauen. In Finnland, den Niederlanden und der Schweiz sind rechtspopulistische Parteien immerhin an der Regierung beteiligt. Und die in Teilen rechtsradikalen Regierungen in Israel und Indien setzen brutal auf das Militär, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Gerichte werden geschwächt, die Pressefreiheit wird eingeschränkt, viele Organe der Gesellschaft, etwa Universitäten und Unternehmen, werden gleichgeschaltet. Das Vertrauen in die Institutionen, von dem eine offene Gesellschaft lebt, wird systematisch untergraben. All das gehört zum Baukasten dieser antidemokratischen Projekte. Während der zweiten Präsidentschaft Donald Trumps lässt sich die lebensgefährliche Operation am Patienten USA live beobachten.
Am Anfang steht eine Behauptung: Was in den gängigen Medien gemeldet wird, sind „fake news“, „gefälschte Nachrichten“. Was die Wissenschaft hervorbringt, was die liberale demokratische Kultur an Werten vertritt – alles Lügen. Dadurch wird ein grundsätzliches Misstrauen gegen alle gesellschaftlichen Kräfte gesät, die nicht auf der eigenen Linie sind.
Im nächsten Schritt präsentiert die Trump-Bewegung dann ihre alternativen Wahrheiten.
Nach einer Zählung der Washington Post hat Trump allein in seiner ersten Amtszeit als Präsident über dreißigtausend falsche Aussagen produziert. Davon 3.225 zum Thema Einwanderung, 3.037 zum Thema Wahlen und 2.521 zum Coronavirus. Aber weil die Trump-Bewegung die Washington Post selbst als Quelle von Fake-News verunglimpft, treffen diese Nachweise bei vielen auf taube Ohren.
Das ganze System der Trump-Bewegung ist auf Lügen gebaut. Angeblich ist er der Anwalt der kleinen Leute. In Wahrheit sorgt er dafür, dass sein Umfeld von Superreichen immer bessere Geschäfte machen kann. Angeblich will er den Staat von antidemokratischen Kräften befreien. In Wahrheit schwächt er systematisch die Justiz: Unliebsame Ermittlungen werden behindert. Richter werden persönlich angegriffen oder als „sogenannte Richter“ diffamiert. Und es wird die Legende von einem „tiefen Staat“ aufgebaut, der die Justiz kontrolliert und der die Trump-Bewegung schädigen will. Angeblich schützt Trump die Gesundheit der amerikanischen Nation. In Wahrheit steigen durch den Abbau der Impfungen schon jetzt die Zahlen von Kinderlähmung, Masern und anderen lebensbedrohlichen Krankheiten. Angeblich will er den Frieden bringen. In Wahrheit fördert er zum Beispiel den Kriegskurs Israels und macht durch die Ansprüche auf Grönland und den Panama-Kanal neue Konflikte auf. Die Streichung der Entwicklungszusammenarbeit im Gesundheitssektor wird zu Millionen von Toten führen, durch die Zunahme von Malaria, Cholera, Masern und HIV. Die Beispiele ließen sich endlos fortsetzen.
In allen autoritären Bewegungen lässt sich das gleiche Muster beobachten. Populistische Versprechungen, die ein brutales Handeln vernebeln. Aber was steckt hinter alledem? Und was hat das mit Jesus zu tun? Und dem Fronleichnamsfest?
Musik 7: Pinecone Grove
Komposition: Bernd Batke & Peter Hoppe; Künstler/Interpret: Slackwax; Album: Pinecone Grove – Single; Label: 2024 Fondue Music; LC: unbekannt
Autor: In der Vergangenheit ist durch Politik und Industrie viel Vertrauen verspielt worden. Aber es hat trotz allem starke Kontrollen gegeben: die kritischen Medien, die unabhängige Justiz, die selbstbewusste Zivilgesellschaft. Großartige Errungenschaften der Neuzeit, um die Freiheit zu sichern. Diese Kontrollen werden von den rechtspopulistischen Systemen bekämpft. Mit einer geschickten Propaganda, die vielen Leuten das Gefühl gibt: Endlich sagt jemand die Wahrheit. Obwohl genau das Gegenteil der Fall ist.
Überall finden sich konservative Christen, die diese rechtspopulistischen Bewegungen bejubeln. Die den Herrschern eine übernatürliche Weihe geben und sie als Werkzeuge Gottes sehen. Im Kampf gegen die Aufklärung und die Emanzipation der Moderne. Gegen die Gleichberechtigung von Menschen aller Nationen und aller sexuellen Orientierungen. Orthodoxe Popen und reaktionäre Evangelikale in den USA gehen Hand in Hand. Im Geist verbunden mit der Amtskirche des Mittelalters, die dem kriegerischen Rittertum ihren Segen gegeben hat.
Einige Milliardäre, mit denen Trump sich verbündet hat, zeigen offen ihre neoreaktionäre Gesinnung. Ihre Weltanschauung verbindet das Geschäft und den Kampf: Die Wirtschaft soll von ethischen Regeln entfesselt werden. Im Kampf ums Dasein sollen sich die Führernaturen durchsetzen mit ihrem Willen zur Macht. Ein neuer totalitärer Feudalismus, neben dem das Hochmittelalter als eine heile Welt erscheint. Demokratie und Rechtsstaat behindern das nur.
Der Publizist Steve Bannon. PayPal-Gründer Peter Thiel. Alex Karp von Palantir. Zum Teil auch Elon Musk.
In dieser umkämpften Welt ist Christus mittendrin. Die Prozessionen des Fronleichnamsfestes bringen das zum Ausdruck. Jesus fordert, wahrhaftig zu sein. Die kleinen Leute und die Ausgebeuteten zu stärken. Nicht mit verlogener Propaganda, sondern mit sichtbaren Taten. Er hat zu Liebe und Solidarität aufgefordert. Nicht zu Ausgrenzung und Kampf.
Eine Kirche, die diesen Jesus ernst nimmt, muss sich politisch äußern. Sie wird eintreten für die Ausgebeuteten in der Heimat. Für die Mitmenschen im globalen Süden. Für die noch Ungeborenen, deren Lebenswelt gerade zerstört wird. Für das Recht und eine stabile, gerechte Ordnung der Gesellschaft. Eine Kirche des Evangeliums ist immer politisch. Auch wenn Politikerinnen, die sich dadurch gestört fühlen, dies bestreiten. Es braucht den Mut einer Bischöfin wie Marian Budde, die Präsident Trump in seinem Einführungsgottesdienst an seine Verantwortung für die Schwachen erinnert hat. Es braucht den Mut eines Löwen. Wie gut, dass der neue Papst den Löwen im Namen trägt.
Christus, mitten in dieser Welt. Er hat von sich gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Der neue Feudalismus dagegen steht für den Irrweg, die Unwahrheit und den Tod. Wenn die christlichen Prozessionen heute dazu Nein sagen, wenn sie Ja sagen zur Wahrheit und zum Leben, dann ist das ein starkes Zeichen der Hoffnung. Diese Hoffnung wünscht Ihnen Pfarrer Sven Keppler von der evangelischen Kirche in Versmold.
Musik 8=6: New Beginning
Komposition/Text/Interpretin: Tracy Chapman; Album: New Beginning; Label: Elektra (Warner); LC: 00192
Quellen:
Barbara Tuchman, Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert, München 1982
Washington Post: https://de.statista.com/infografik/24003/anzahl-der-falschen-oder-irrefuehrenden-aussagen-von-us-praesident-donald-trump/
https://www.deutschlandfunk.de/die-peter-thiel-story-100.html
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth