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Kirche in WDR 5 | 05.05.2025 | 06:55 Uhr
Sich lieben
„Jimmy“ riefen sie ihn, wenn er zwischen den Hochhäusern freundlich winkte. Oft wurde er ausgenutzt. Auch von seinen albanischen Landsleuten, die wie er hier ein neues Leben beginnen wollten. Wir waren Nachbarn, als ich als Arbeiterpriester im sozialen Brennpunkt lebte. Eines Tages klopft Jimmy verzweifelt an meine Tür im 13. Stock: „Ich war telefonieren, in der Telefonzelle. Es war ein so schlimmes Gespräch, dass ich danach schnell raus bin. Hab alles liegen lassen … meine Papiere, mein ganzes Geld … Jetzt ist alles weg … Ich stehe vor dem Nichts …“ Lange sitzen wir uns gegenüber, geschockt und bedrückt. Nur einzelne Worte gehen hin und her. Aber dann – nach langem Schweigen – richtet Jimmy sich auf: „… und ich liebe mich mit meinen Problemen!“[1] Er war in einer verzweifelten Lage – äußerlich hatte sich nichts verändert –, und doch war plötzlich alles anders. Was war geschehen? Ich weiß es nicht. Eine Wandlung. Ja. Aber ich konnte weder einen neuen Gedanken seinerseits erkennen noch eine besonders gelungene Antwort meinerseits. Inmitten dieser verfahrenen Situation brach aus dem Nichts heraus etwas Neues auf. Oder genauer: Es kam aus der Resonanz zwischen uns. Alles lag nun da in einem neuen Licht. In diesem Licht konnte sich Jimmy mit seinen Problemen lieben. Ich staunte: Jimmy kam aus Albanien – staatlich indoktrinierter Atheismus, Gott kein Thema. Wie kam er dazu, sich an diesem Nullpunkt liebenswert zu finden? Ich weiß es nicht. Er wusste es vermutlich selbst nicht. Aber es war wahr. Jimmy hatte am Tiefpunkt seiner Verzweiflung radikal neu angefangen. Eindeutig und unumkehrbar: „Ich liebe mich mit meinen Problemen!“
Krisen sind auch die Ursprungsorte christlichen Glaubens. Jesus durchlebte in der Wüste eine entscheidende Lebenskrise und Paulus, als er plötzlich erblindete und vor dem Nichts stand. Gerade in Krisen, die ich um alles in der Welt meiden will, kann neues Leben aufbrechen. Religiöse Konventionen und Konstruktionen können vorübergehend helfen. Doch früher oder später werden sie – hoffentlich! – zerbrechen.
Oft bekommt mein Glauben, mein Vertrauen erst dann Tiefe und Weite, wenn ich überwältigt wurde von etwas unheimlich Schönem oder unheimlich Schlimmem. Da komme ich über mein enges Ich hinaus. Da bin ich fasziniert oder total desorientiert. Bin fassungslos, kann die Freude oder das Leid nicht fassen.
Gott, ich habe Krisen als Wachstumskrisen erfahren. Meist erst im Nachhinein. Du traust mir, Du traust uns manchmal Krisen zu, in denen Du spurlos verschwunden zu sein scheinst. Dann taste ich im Dunkeln nach Dir. Mit nichts als dieser zittrigen Ahnung: Du bist bei mir in meinem Nicht-mehr-weiter-Wissen. Du kennst das. Und Du liebst mich mit meinen Problemen und ich mich auch.
Aus Aachen grüßt Georg Lauscher.
[1] Vgl. Georg Lauscher, Lebenskrisen und ihre Botschaften. Von Anfängen und Übergängen, Würzburg 2021, 7f.