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Das Geistliche Wort | 15.03.2020 | 08:40 Uhr

An Lebensgrenzen Perspektiven leben


Guten Morgen!

Mein Navi hat mich irgendwie auf Abwege geführt. Eigentlich suche ich mein neues Büro in der Beratungsstelle der Ehe- und Lebensberaterin. Aber ich stehe vor einer riesenhohen Schallwand direkt an der A 40, irgendwo in Essen. Ich höre, wie hinter der Schallwand der Verkehr rauscht. Hier komme ich nicht weiter. Also mal aussteigen und fragen.

Es ist ein warmer Sommerabend und auf weißen Plastikstühlen vor einem Hauseingang sitzen 3 Frauen und stricken. Sie können mir weiterhelfen. Ich muss einfach nur geradeaus gehen und dann wäre ich an meinem Ziel. Als ich später wieder vorbeikomme, sitzen sie immer noch da und gucken mich erwartungsvoll an. Ich gehe zu ihnen, denn ich bin neugierig und will wissen, wie es sich so lebt direkt an der A40 mit diesem rauschenden Dauerton mit einer rot weiß gestreiften meterhohen Schallwand vor Augen. Ruckzuck bin ich mittendrin im Gespräch mit den Frauen. Ich erfahre, dass sie freiwillig in dem Haus leben, weil es ihre Rettung vor der Obdachlosigkeit ist. Es ist das Theresienhaus des Caritasverbandes und des Sozialdienstes katholischer Frauen in Essen.

Das Theresienhaus des Caritasverbandes und des Sozialdienstes katholischer Frauen in Essen. Ich bin noch mehrere Male dort hingefahren und bin beindruckt, was hier im Schatten der Schallwand der A40 geschieht.

16 Frauen leben hier, alle waren von akuter Wohnungslosigkeit bedroht. Nix ging mehr in ihrem Leben, die Obdachlosigkeit droht: Sucht, psychische Erkrankungen, Knast, Gewalt, Schulden. Sie waren am Ende und alleine.

Das Theresienhaus gilt als letzte Adresse vor dem Leben auf der Straße.

Jede hilfebedürftige Frau ist willkommen. Alkohol, Drogen sind no go! Und einfach nur kommen und abhängen, das geht auch nicht. Es wird hier an den Selbstverständlichkeiten des Lebens gearbeitet: Aufstehen ist Pflicht, Essen vorbereiten, zunächst mit Hilfe, gemeinsame Mahlzeiten, mit den anderen Frauen schwatzen beim Essen, bei der Zigarette, draußen vor der Tür, in Kontakt kommen, die eigene Isolation durchbrechen, Fragen stellen und selbst zu antworten lernen. Och! Hört sich ganz banal an. Ist es aber nicht. Über das eigene Leben sprechen, das läuft nicht immer, da gibt es Hemmungen, Angst, nicht ernstgenommen zu werden. Lernen mit Trippelschritten, Sicherheit unter den Füßen zu bekommen. Dabei helfen Gruppensitzungen und Einzelgespräche und das verpflichtende Freizeitprogramm. Lernen, wie Leben geht.

Jede Frau hat eine Bezugsbetreuerin, die ist die erste Ansprechpartnerin. Die lässt nicht locker. Die fordert ein: Was kannst du? Was willst du? Wie kannst du das erreichen? … Und sie hilft. Konkret wird geguckt nach Schulabschlüssen und beruflicher Erfahrung, bei Krankheiten werden Therapieplätze gesucht und, wie sollte es anders sein, jede Frau wird in ihrer Mitverantwortung gestärkt. Telefonate führen, Information einfordern, Anträge ausfüllen, das ist für viele eine zu große Herausforderung Daher sitzt jetzt jemand daneben, die unterstützt, nicht locker lässt, motiviert, lobt, den Rücken stärkt.

Besonders wichtig bei den verpflichtenden Gruppensitzungen ist, der Woche Struktur zu geben: Wer kocht wann was? Welches Freizeitangebot will ich mitmachen? Aber auch das gibt es: Streit und Auseinandersetzung. Da reden sie sich die Köpfe heiß. Das ist gar nicht schlimm, Konflikte sind Lernfelder, weil die Frauen hier erfahren, wie Streitigkeiten zu regeln sind. Jede Frau erfährt, es gibt ein alternatives Verhalten, das mir und den anderen gut tut. Ich verliere die Nähe zu den anderen nicht, wenn ich mal danebentrete. Es gibt ein Weiter! Und die Gruppe gibt Rückmeldungen dazu: So werden Kompetenzen entwickelt und Grenzen ausgelotet. Das ist anstrengend, manchmal mit einem Rückschritt verbunden, aber am Ende gewonnenes Selbstvertrauen.

Maximal zwei Jahre dürfen die Frauen im Theresienhaus bleiben, dann stehen viele auf eigenen Beinen, haben ein gutes Bewusstsein von ihren Möglichkeiten und Grenzen und können ihr Leben selbst organisieren.

Im Theresienhaus habe ich drei Frauen kennengelernt, die erzählen wollen über sich selbst. Das erfordert Mut, sie stellen sich erneut ihrer Vergangenheit, obwohl sie ihrer Zukunft noch nicht sicher sind. Ihre Namen habe ich geändert.

Da ist Julia, 50 Jahre alt: Temperamentvoll, süddeutscher Akzent, sportliches Auftreten. Ihr erster Satz: „Mein ganzes Leben besteht aus Flucht!“ Flucht vor dem Stiefvater, der oft betrunken war, der sie sexuell missbraucht hat. Die Mutter hat weggeguckt, keiner hat sie geschützt. Sie flieht von zu Hause in die rettenden Arme eines Mannes – aber auch das geht schief. Sie flieht von einer Beziehung in die nächste. „Ich war wie eine offene Wunde, die Männer versprachen mir viel. Ich weiß, es hört sich bescheuert an, warum ich dauernd darauf reingefallen bin. Bin ich aber. Diese unstillbare Sehnsucht nach Liebe, die steckt in jedem, die will ich auch. Jeder hat ein Recht darauf geliebt zu werden. Warum nur ich nicht? Immer wieder rein, diesmal wird es was und wieder der Absturz, hart und erbarmungslos.“

Dann endlich das ersehnte Kind. Julia hört mit dem Trinken auf, nimmt Verantwortung wahr und will alles gut machen. Aber es gelingt nicht: zu viele Rückschläge und dann der Alkohol. Ihr Kind muss sie abgeben. Das war vor 16 Jahren.16 Jahre keinen Kontakt. Aber diese Sehnsucht nach ihrem Kind, kaum auszuhalten. Sie schmerzt täglich.

Ihr letzter Mann hat dann alles getoppt. Er schlägt sie, sie ist sein Eigentum. Ein Krankenhausaufenthalt rettet sie. Die einzige Lösung der Hölle zu entkommen, schnell weg aus der Stadt, untertauchen, alles zurücklassen und neu anfangen, aber wo? Erst eine Obdachlosenunterkunft und jetzt, seit knapp zwei Jahren das Theresienhaus.

„Ich muss noch etwas stärker werden“, sagt sie. Die eigene Wohnung hat sie in Aussicht, eine Wiedereingliederung in ihren Beruf als Verkäuferin steht bevor und ihr sehnlichster Wunsch ist es, den Sohn wiederzusehen.

Im Thersienhaus treffe ich auch Stefanie. Sie ist 54. Sie wirkt ruhig, spricht strukturiert, sie will die Kontrolle über sich behalten, das ist Teil ihres Problems.

In ihrer Familie wird gemacht, was die Mutter sagt. Das Wort ICH gibt es nicht. Gefühle waren unerwünscht. Die kleine Stefanie wird niedergeschlagen, mit dem Kopf vor die Tür gedonnert, kein Körperteil ist sicher vor den Schlägen. Brüche, Platzwunden, und keiner will es sehen. Stefanie will alles richtig machen, um der Gewalt zu entkommen. Die einzige Lösung ist der innere Rückzug: Nur nicht auffallen, wegducken, nix sagen, leise sein, fast verschwinden. – Und: keine Gefühle zeigen. Das kann sie bis heute nicht, findet keine Worte für ihr Befinden.

Sie schafft die Schule gut, macht ihr Fachabitur, arbeitet, macht beruflich Karriere. Das Glück steht vor der Tür: netter Mann, zwei Kinder. Dann erkranken die Eltern. Sie muss sich kümmern, alles hängt an ihr. Keiner nimmt ihr etwas ab. Und dann, vor vier Jahren der Zusammenbruch. Von jetzt auf gleich geht absolut nichts mehr. Sie kommt in die Psychiatrie.

Die Kinder kann sie nicht mehr versorgen. Nach dem Krankenhausaufenthalt lebt sie allein. Das geht nicht lange gut. Panikattacken, Totalrückzug, überall Dunkelheit, es gibt keinen Grund zum Leben, die Zwangsräumung steht vor der Tür, wohnungslos. Sie versucht sich das Leben zu nehmen.

Jetzt ist sie im Theresienhaus. Hier hat sie das Handwerkszeug bekommen, ihre Bedürfnisse und Gefühle in Worte zu fassen. Sie kann andere besser wahrnehmen und spüren und NEIN sagen. Bald wird sie in ihre eigene Wohnung ziehen.

Und dann ist da Monja, 22, jung und dynamisch. Das ist ihr echter Name, es darf jeder wissen, wer und wo sie ist. Ein Wirbelwind, Sprache und Hände überschlagen sich beim Erzählen. Sie wird Raumausstatterin, Mathe ist ihr Lieblingsfach.

„Ich bin ich: Ich bin ein lauter Mensch, ich tanze, ich singe, ich kenne keine Hemmschwelle und mir ist nichts peinlich. Aber halt, nicht, dass ihr denkt, ich mach alles, was ich will, so ist das nicht. Respekt ist mir wichtig. Ich hab immer Respekt vor jedem, dass das klar ist.“ Das ist ‘ne Ansage.

Sie sprengte alle Systeme, alle Ordnungen. Sie war immer wütend, sie hat alles kaputt gemacht. Sie ist mit dem Kopf vor die Wand. Die sexuellen Übergriffe des Vaters begannen früh. Sie kann sich nicht daran erinnern, aber sie kennt die Akten.

Mit 5 fünf kommt sie ins Kinderheim. Sie muss lernen, mit ihrer Wut umzugehen. Das gelingt nicht immer. Sie will einfach nur geliebt werden, diese Sehnsucht ist immer da. In der Pubertät beginnt sie sich selbst zu verletzen, sie ritzt ihre Haut auf. Der Schmerz löst die Spannung, aber nicht das Problem.

Die Schule läuft gut, das hat sie hinbekommen. Irgendwann mit 18 nimmt sie sich eine eigene Wohnung. Sie will alles richtig machen. Klappt aber nicht. Ihr wird gekündigt. Sie steht auf der Straße, kurz vor dem Abitur. Das Theresienhaus ist ihre Rettung, das war vor einem halben Jahr. Na ja, sie ist ja ehrlich: Ist schon Mist, dass wir hier keine Partys feiern können, aber ohne meine Betreuerin hier würde nix laufen, die lässt nicht locker, ach eigentlich helfen wir uns alle. Die Hautsache ist, im Herzen stimmt alles und die Oberhauptsache: Keiner macht Scheiß mit mir!

Ich bin froh, Julia, Stefanie und Monja zu kennen. Sie haben mir Vertrauen entgegengebracht. Haben über ihre Verzweiflung gesprochen und mir ihren Rettungsort gezeigt: das Theresienhaus in Essen, direkt an der A40! Und genau hier finden Frauen eine neue Perspektive, können ihre Lebensakzente neu setzen, überspringen ihre inneren Mauern, lernen leben und schaffen eine Wende in ihrem Leben.

Um diese Wende zum Leben hinzukriegen, bedarf es Menschen, die hingucken, wo die Verzweiflung wohnt, die dahin gehen, wo andere an ihre Grenzen geraten und da hinhören, wo Unsagbares in Worte gefasst wird. Gut, dass es so einen Ort wie das Theresienhaus gibt.


Aus Essen grüßt Sie Barbara Mikus-Boddenberg

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