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Kirche in WDR 3 | 27.09.2025 | 07:50 Uhr
Entschlüsseln
Am Morgen, wenn der Tag noch nicht entschieden ist, da schießen einem ja manchmal merkwürdige Gedanken in den Kopf. Mal mehr, mal weniger verschlüsselt —, wo wir schon beim Thema sind: Der heutige Tag steht für eine unglaubliche Leistung, die Entzifferung einer geheimnisvollen Schrift: der Hieroglyphen.
Jean-François Champollion findet 1822 als Erster heraus: Hieroglyphen sind nicht nur kunstvolle Bilder; sie sind Bilder, die zugleich Sprache sind: Laute, Wörter, Sinn — ein Schlüssel zum Verborgenen. Eine neue Welt geht förmlich auf. — Nicht nur Königsnamen wie Ramses oder Echnaton lassen sich jetzt entziffern, ganze Tempelwände und Papyri werden auf einmal lesbar.
Einen solchen Schlüssel zu finden, das muss großartig sein. Und wenn ich ehrlich bin: Ich wünsch mir sowas nicht nur für die Wissenschaft. Auch im Alltag, ganz banal: bei Gebrauchsanweisungen zum Beispiel. Wie oft sind die für mich ein einziges Rätsel. Oder bei Behördenpost, in der mir dieses Amtsdeutsch hieroglyphenartig entgegenschlägt. Ich lese — und lese nochmal und trotzdem steh ich wie ein Ochs vorm Berge.
Und manchmal geht es gar nicht nur um Papier. Da wirkt das Leben selbst verschlüsselt: Es gibt Tage, die laufen so ganz anders. Oder Begegnungen bleiben irgendwie rätselhaft. Natürlich suche ich da nach Zeichen, die mir entschlüsseln helfen, was da eigentlich passiert. Gute Geschichten können einem sowas manchmal erklären.
In der Literatur zum Beispiel. Literatur macht Erfahrungen lesbar — in einer Sprache, an der ich mich wie an einem Faden aus meiner Krise herausziehe. Ich finde eine neue Richtung, vielleicht sogar einen Schlüssel für das eigene Leben.
Und von hier ist es kein großer Schritt mehr zur Heiligen Schrift. Für mich steht sie in einer Reihe mit den großen Werken der Weltliteratur. Poetische Sprache — Gebete und Geschichten, die seit Jahrhunderten unterwegs sind und doch auch heute Morgen was zu sagen haben: Prophetenworte, die trösten und aufrütteln. Psalmen, die klagen und hoffen. Oder Weisheiten, die meinen Blick lenken auf das Wesentliche. Sie alle sind Resonanzräume für neuen Mut; ganz praktische Schritte zu neuer Intensität und Tiefe.
Für mich ist die Heilige Schrift eine Art Schlüsselliteratur. Also das Gegenteil eines Geheimrezepts oder eines Buchs mit sieben Siegeln. In ihm finden sich Geschichten für alle: für Scheiternde und Erfolgreiche, für Erschöpfte und Suchende. Für die „Mühseligen und Beladenen“ (Mt 11,28). Für all diese Menschen eröffnet die Bibel Perspektiven.
Wie geht das in einer aus den Fugen geratenden Welt? Gerechtigkeit üben oder barmherzig sein? Frieden stiften? — Wahrheit will getan werden, heißt es im Johannesevangelium (Joh 3,21). Da geht mir etwas auf, was mir lange Zeit verschlossen war.
Daran erinnert mich heute Jean-François Champollion. Er blieb dran an diesen merkwürdigen Zeichen, die er zunächst nicht entschlüsseln konnte. Das ermutigt mich: Dranbleiben. Eine Brücke schlagen: zwischen dem, was ich schon weiß, und dem, was es noch zu entschlüsseln gilt im Leben.
Einen solchen Schlüssel, den wünsche ich natürlich auch Ihnen. — Ludger Verst, Köln.