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Kirche in WDR 4 | 04.08.2025 | 08:55 Uhr
Natalies Kunststück
Guten Morgen.
Es ist schon so ein kleiner Schockmoment. Als wir ins Esszimmer kommen und die Wand sehen. Die schöne, weiße Raufasertapete… – Aber von vorn…
Ich habe drei Geschwister. Zwei in meinem Alter, aber die dritte ist eine Nachzüglerin, zwölf Jahre jünger als ich. Und als ich Jugendlicher war, war Natalie eben noch Kleinkind und meistens die Freude des Hauses. Meistens. An diesem Morgen aber hat sie sich, trotz zweier Elternteile und drei älterer Geschwister, unbemerkt ins Esszimmer geschlichen. Mit einem roten und einem grünen Filzstift sagen wir – verwandelt sie die Wand großflächig. Ein Motiv oder Muster ist nicht zu erkennen. Die ganze Tapete von unten bis dahin, wohin die kleinen Ärmchen reichen, ist übersät mit rot-grünem Krickelkrakel.
Was tun, ist die Frage: Die Wand neu streichen, wahrscheinlich zweimal, so dass nichts mehr durchscheint von der Schmiererei. Das Kind zurechtweisen sowieso. Oder – die Idee kommt meinem älteren Bruder – einfach in die rechte Ecke ein Datum und ihren Namen schreiben: Natalie.
Plötzlich sehen wir keinen Schandfleck mehr – wir sehen ein Kunstwerk. Die roten und die grünen Striche haben sich nicht verändert, aber wir haben uns verändert. Wir sehen die Wand mit neuen Augen. Die Kreativität, die mutige Dreistigkeit, die Farbenfreude, die Selbstverständlichkeit, mit der Natalie der langweiligen Raufasertapete einen unverwechselbaren, individuellen Touch gegeben hat. Und der kleine Trick mit dem Datum und der Unterschrift verändert nicht nur unseren Blick, sondern auch ein wenig unser Herz. Nach anfänglichem Schock und elterlicher Wut kehrt Gelächter in die gute Stube zurück.
Die Bibel gönnt sich in ihrem Herzen, mittendrin, ein Songbook. 150 Lieder, gesungen und gesammelt, tausende von Jahren alt und nach wie vor frisch und kraftvoll. Und in Lied 51 wird eine große Bitte formuliert: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ (Psalm 51,12). Das ist ein gesungenes Gebet an den Schöpfer, der Licht und Dunkel, Meere und Gebirge erschaffen und sich den Menschen erdacht hat. „Schöpfer, schaffe in mir ein reines Herz. Befreie es von den Schichten der alten Geschichten! Nimm den Dreck, komm herein und mache mich neu. Bitte!“
Wenn Gott ein neues Herz, einen neuen Blick, eine neue Perspektive schenken kann, dann stelle ich mir das so ähnlich vor. Ich sehe mich als wertvolles, einzigartiges, geliebtes Kind Gottes und nicht mehr als fehlerhaftes Wesen, das immer weiter optimiert werden muss. Und so sehe ich auch dich mit anderen Augen. Großzügiger, großherziger, gnädiger. Mit demselben Blick mit dem mich mein himmlischer Vater ansieht. Mit dem Blick, der ein Kunstwerk sieht, wo man vorher nur Krikelkrakel vermutet hat. Dieser Blick erneuert mein Inneres. Und da, wo mein Inneres erneuert ist, ändert sich auch das, was ich von mir gebe, in Worten, Gedanken, in meinem Tun.
Der voreilige Plan, das Kunstwerk meiner Schwester zu übertünchen, ist übrigens tatsächlich verworfen worden. Mit dem neuen Blick kommt plötzlich die andere, kreative Idee zum Zug: Für mehrere Jahre erstrahlte in unserem Esszimmer in Krefeld ein Kunstwerk, und die Künstlerin saß mit am Tisch.
Wagen Sie es, sich von Gott mit einem neuen Blick und einem einfühlsamen Herzen beschenken zu lassen. Es grüßt Sie aus vollem Herzen, Patrick Depuhl, Alpen.
Quellen: Psalm 51,12 / Luther 2017
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze