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Sonntagskirche | 02.11.2025 | 08:55 Uhr
Jammerlappen
In Kevelaer, wo ich arbeiten darf, also dem Wallfahrtsort am linken Niederrhein, da steht in der Mitte des Platzes die Gnadenkapelle. Im Zentrum dieser Kapelle hängt es: das kleine, graue Bild mit der großen Wirkung. Eine Zeichnung der Mutter Gottes. Sie trägt den Titel: „consolatrix afflictorum“. Also: „Trösterin der Betrübten“. Zu diesem kleinen Bild kommen Jahr für Jahr etwa 800.000 Menschen. Sie suchen oft das, was über dem Bild steht: Trost. Und sie bringen mit, was dort ebenso steht: Trübsal, Traurigkeiten, Ängste und Sorgen. Mitunter wird man dort, an diesem besonderen Ort auch Zeuge von der ein oder anderen Begebenheit. Mal ist das zum Schmunzeln. Ein anderes Mal zum Mitfühlen und manches Mal sogar zum Mitweinen.
Vor einigen Wochen hatte ich
dort gerade eine Führung beendet, da sehe ich im Augenwinkel einen älteren
Herrn. Er hat wirklich ein stattliches Alter und das Gehen am Rollator fällt
ihm schwer. Aber klar und mit entschlossenem Blick schaut er durch das offene
Fenster auf das kleine Bild in der Kapelle. Nach einer kurzen Zeit macht er ein
Kreuzzeichen und legt irgendetwas ab auf die Fensterbank des Kapellenfensters.
Wie beim Postamt, wenn man einen Brief abgibt. Beim Umdrehen sieht er mich. Und
spricht mich an: „Da schauen Sie, was? Ich kläre sie auf. Das ist mein
Taschentuch. Aus Stoff. Seit Jugendtagen. Aber seit einigen Jahren zu sehr
beansprucht. Wird nur noch zum Schneufen und Tränen abwischen gebraucht. Es
wird zu viel geweint, seit Mutti tot ist!“. Mit Mutti, da meint er seine
Frau. Und die, die ist vor 5 Jahren gestorben und seitdem hat er eine neue
Begleiterin: die Traurigkeit. Solche Gespräche auf dem
Kapellenplatz, die sind mitunter kurz – und dennoch tief. So war das
mit diesem älteren Herrn mit Rollator. Als er
seines Weges ziehen will, raunt er mir noch zu: „Bis ich Mutti wieder sehe im
Himmel, will ich versuchen mehr zu lachen. Das wird nicht leicht. Aber ich bin
das weinen satt!“.
Am Abend habe ich dann so bei mir gedacht: Wie unglaublich mutig. Und ich dachte an eine Redewendung, die oft (vielleicht auch unbemerkt) in unserem Wortschatz ist. Da ist die Rede vom „Jammerlappen“. Und ich denke an meine Kindheit, in der ich oft gehört habe: „Jetzt sei kein Jammerlappen“. In den meisten Fällen war das angebracht, denn die Tränen, die damals geflossen sind, die waren oft Krokodilstränen. Heute, einige Jahrzehnte später, da weiß ich selber auch: Es gibt Traurigkeiten, die gehen tiefer und ans Eingemachte. Erst recht dann, wenn Menschen hier auf einmal fehlen.
Heute feiert die Kirche Allerseelen und sie denkt an alle Menschen, die gestorben sind. Aber: Sie denkt gleichzeitig auch an alle Trauernden. Warum? Weil mit diesem Tag ein Raum aufgemacht wird um traurig zu sein und seinen eigenen Weg mit dieser Trauer zu finden. Der Apostel Paulus hat mal gesagt: Trauern ist okay. Aber bitte nicht so wie Menschen, die keine Hoffnung haben.
Wie das geht? Vielleicht, indem man ab und an versucht, den Jammerlappen in sich loszuwerden… genau wie der ältere Herr vor der Gnadenkapelle.
