Beiträge auf: wdr2
Kirche in WDR 2 | 19.09.2025 | 05:55 Uhr
Ich könnte das nicht
Neulich sitzen wir bei Bekannten. Eine nette Einladung. Gemeinsames Abendessen. Irgendwann erzählt jeder, was so er macht: beruflich, Hobbys. Eine Lehrerin. Eine Sekretärin. Ein Arzt. Und dann erzähle ich, was ich so mache. „Ich arbeite im Gefängnis.“, sage ich. „Als Seelsorger.“ Stille. Die Gesichter werden ernst. Bis einer sagt: „Also das könnte ich ja nicht. So den ganzen Tag zusammen mit Verbrechern. Wie machst du das?“ „Och“, sage ich, „das ist ganz einfach. Das liegt daran, dass ich gar nicht den ganzen Tag mit Verbrechern zu tun habe.“ „Sondern?“, fragt mein Gegenüber. „Mit Menschen.“, sage ich. Es gibt da bei mir diese grundsätzliche Beeinträchtigung: Ich schaffe es einfach nicht, Menschen in Schubladen zu stecken. Irgendwie sehe ich immer mehr als das, was da außen auf der Schublade steht.
Da ist einer, der hat gestohlen. Er ist ein Dieb. Und ich denke: Aber er ist auch noch ein Sohn, ein Vater, ein Ehemann, ein Bruder, ein Automechaniker und was weiß ich noch. Ich habe diese Beeinträchtigung, glaube ich, aus der Bibel. Nehmen wir die Geschichte von Kain und Abel. Zwei Brüder, der erste Mord der Geschichte. Kain erschlägt Abel. Aus Wut. Und natürlich lässt Gott ihm das nicht durchgehen. Kain wird bestraft. Er wird verbannt, muss heimatlos durch die Welt ziehen. Es geht nicht anders, er ist schließlich ein Mörder. Aber zugleich bringt Gott ein Zeichen an Kain an, das soll ihn beschützen. Denn er ist zwar ein Mörder, aber er ist doch auch immer noch ein Mensch, der seine Würde hat und der Schutz verdient.
Vielleicht habe ich diese Geschichte einmal zu oft gelesen, denn ich empfinde das genauso: Menschen tun oft Dinge, die ich furchtbar finde. Und da kann ich auch knallhart sein. Es gibt Dinge, die gehen einfach nicht. Aber ich schaffe es nicht, sie dafür zu hassen oder zu verachten. Weil ich immer denke: Da ist noch viel mehr in diesem Leben. Und deshalb will ich den Anderen so behandeln, wie es sich für einen Menschen gehört. Das geht mir übrigens nicht nur im Gefängnis so. Auch wenn es um Politik geht, z.B. kann ich nur unterschiedliche Meinungen sehen, unterschiedliche Interessen. Aber keine Feinde. Ich kann mir z.B. auch gar nicht vorstellen, was Menschen dazu bringt, in den sozialen Medien jemanden in Grund und Boden zu stampfen. Weil er oder sie etwas gesagt hat, das man angeblich nicht sagen soll. Oder einfach eine Frisur hat, die man heute nicht mehr trägt. Immer noch Schweigen in der Runde.
„Sag mal, Sven“,
ruft da jemand. „Was machst du denn so?“ „Immobilienmakler.“ „Ach das ist ja
interessant, erzähl mal.“ Ok, ich verstehe, ich bin raus. Ich bin zu
anstrengend. „Vielleicht bin ich mit meiner Einstellung aber auch wirklich ein
bisschen seltsam.“, denke ich. „Vielleicht liegt das aber auch gar nicht an
mir. “
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius