Beiträge auf: wdr5
Das Geistliche Wort | 19.10.2025 | 08:40 Uhr
DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.
Mental Heath oder: Die Sorge um die Kinder in einer Welt voller Gewalt
Autorin: Mental Health: Seelische Gesundheit ist heute in aller Munde.
Psychische Erkrankungen nehmen zu. Die Zahl der Krankschreibungen, die darauf zurückgehen, hat sich seit der Jahrhundertwende verdoppelt. Auch Kinder und Jugendliche sind davon betroffen.
Dabei bildet Mental Health, also psychisches Wohlbefinden, die Grundlage für eine gesunde Entwicklung, soziale Beziehungen und ein erfülltes Leben.
Ein Beispiel:
Samis Leben war schon in frühester Kindheit aufs falsche Gleis gesetzt. Seine Eltern waren nicht böse, aber völlig überfordert. Samis Vater war krank und seine Mutter hatte schließlich 3 Jobs, um irgendwie durchzukommen. Sami wird immer öfter vor dem Tablet geparkt. Samis Vater gerät schließlich an Alkohol. Die Eltern streiten immer häufiger. Es kommt auch zu Gewalt und Sami muss das mitansehen. Er wird immer stiller und dünner und ist schließlich von dem Tablet kaum noch zu trennen. Als er auch noch blaue Flecken hat, schaltet die Schule das Jugendamt ein. Sami lebt fortan in einer Heimgruppe. Seine Albträume werden weniger und er nimmt wieder zu. Das Tablet bleibt sein ständiger Begleiter. “Wir sind hier alle gleich“, sagte er. „Es gibt niemanden, der uns liebt“. Das Leben will noch nicht recht in ihn zurückkehren.
Zahlreiche Faktoren können die seelische Gesundheit beeinträchtigen: familiäre Konflikte, Leistungsdruck, Mobbing und Gewalterfahrungen, soziale Isolation und der Einfluss sozialer Medien. Besonders in der Corona-Pandemie berichteten Fachleute von einem starken Anstieg psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen. Das Thema ist aber so alt wie die Menschheit. Gerade die Entwicklung von Kindern war immer gefährdet.
Auch die biblische Überlieferung zeugt davon. Drei Kindergeschichten aus dem Markusevangelium erzählen von Kindern, die dem Tod näher sind als dem Leben, und von Eltern, die um ihre Kinder kämpfen.
Da ist die 12-jährigeTochter des Jairus, ein sterbendes Mädchen. Von einer körperlichen Krankheit hören wir nichts.
Da ist die Tochter einer Griechin aus Tyros. Von einem Dämon wird berichtet und einem unreinen Geist, der sie plagt.
Und da ist der Junge, der von einem sprachlosen unreinen Geist zu Boden geworfen wird. Er liegt da wie tot.
Was steckt hinter diesen Geschichten? Finden wir in diesen biblischen Geschichten eine Spur, die Kindern wie Sami heute helfen kann, einen Weg zu finden?
Musik 1: Badeken Di Kallah (Veiling The Bridge)
Interpret: Giora Feidman; Album: Deep Notes - The Best of Bass Clarinet; Label: MACC Records; LC: 96735
Autorin: Von der Schweizer Befreiungstheologin Luzia Sutter Rehmann habe ich gelernt: Das Markusevangelium ist eine Stimme aus einer Nachkriegszeit, entstanden aus den Trümmern einer zerstörten Welt, unmittelbar nach dem jüdisch-römischen Krieg und der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Die Not der Menschen, von denen das Markusevangelium berichtet, ist auf diesem Hintergrund zu verstehen: den Erfahrungen von Krieg und Gewalt.
Luzia Sutter Rehmann beschreibt:
Sprecherin: Der Krieg hat ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Palästinas niedergemetzelt. Viele Überlebende wurden als Kriegsgefangene in die Sklaverei verkauft. Sie kamen in Bergwerke, auf Galeeren oder in die Arenen. Sie lebten alle nicht mehr lang. (Sutter Rehmann, S.84)
Autorin: Auf den Krieg folgt das Regime der Römer. Die Herrscher erheben hohe Steuern und Abgaben. 70% der Bevölkerung leben unter dem Existenzminimum. Das Markusevangelium erzählt für zumeist traumatisierte, von Gewalt gezeichnete Menschen, die dringend einen Weg für sich und ihre Kinder suchen. Jesus beginnt, die Menschen zu trösten – nicht in der Wüste, sondern in der Verwüstung, in den Ruinen. Das Markusevangelium sucht eine Sprache gegen Gewalt und Tod. Es ringt mit der Gewalt, die in den Köpfen und den Träumen der Menschen ihr Unwesen treibt.
Musik 2: Not For Our Sake / Lo Lanu
Interpret: Giora Feidman; Album: Deep Notes - The Best of Bass Clarinet; Label: MACC Records; LC: 96735
Autorin: Was ist los mit diesen Kindern im Markusevangelium?
Von Dämonen ist die Rede, von Besessenheit und von unreinen Geistern. Die Betroffenen kämpfen mit unsichtbaren Kräften, die ihr Leid verursachen. Diese Kinder ringen mit Dämonen, die aus einer gewaltvoll zerbrochenen Welt stammen. Luzia Sutter Rehmann hat eine klare Vermutung:
Sprecherin: „Es könnte sein, dass viele Besessene von Mächten überwältigt wurden, die keine übernatürlichen, sondern menschliche Ursachen haben.“ (LSR S.20)
Autorin: Die Augen dieser Kinder haben schon in jungen Jahren Unvorstellbares gesehen: maßlose Gewalt und unsägliches Leid. Es könnte sein, dass sie von Bildern im Kopf geplagt werden, die vergangene Schrecken immer wieder in die Gegenwart einbrechen lassen. Es könnte sein, dass es ihnen die Sprache verschlagen hat angesichts dieser Gewalt. Sie sind verstummt und energielos, zu Boden gerissen und haben aufgehört zu essen. Alles Leben scheint aus ihnen gewichen. In einer zerbrochenen Welt fühlen sie sich mutterseelenallein.
Was kann ihnen helfen?
Musik 3 = Musik 1: Badeken Di Kallah (Veiling The Bridge)
Autorin: Neben den Dämonen werden „unreine Geister“ genannt. Reinheit meint hier nicht Hygiene, sondern religiöse Reinheit vor Gott, meint: Leben nach den Geboten Gottes. In Galiläa hat es wohl eine Reinheitsbewegung gegeben, sie will helfen, die Wunden zu heilen: Reinheit ermöglicht den Kontakt zum Heiligen, zum Ursprung des Lebens, zum Gott Israels. Reinheit entsteht in der Gemeinschaft des Glaubens, in der Beachtung religiöser Gebote, in einer Gemeinschaft, die sich reinigt. Unreinheit entsteht vor allem durch den Kontakt mit dem Tod. Sich zu reinigen bedeutet: sich solidarisch miteinander zu verbinden und wieder der Nähe Gottes zu vergewissern. Noch einmal die Theologin Luzia Sutter Rehmann:
Sprecherin: “Während die Gewaltereignisse die Bevölkerung radikalisierten, bildete die Reinigungspraxis eine Art religiöser Gegenmaßnahme. Sie wurde aus einer Mischung von Solidarität und Verzweiflung intensiviert und entwickelte sich zu einem spirituellen und praktischen Widerstand.“ (LSR S. 262)
Autorin: Vor diesem Hintergrund bedeuten „unreine Geister“, dass die Kinder mit Tod in Kontakt waren, dass Bilder von Grausamkeit und Tod in ihren Köpfen spukten, dass das Trauma der Gewalt ihre Verbindung zum Leben gekappt hat. Ihre Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen, war so verlorengegangen.
Sprecherin: „Krieg und das damit zwangsläufig einhergehende Töten trennen von Gott (…) und stören die Lebensordnung. Damit ist der Krieg niemals Normalfall, sondern Störfall, Töten niemals harmlos, sondern gefährdet das Zusammenleben auch der Sieger.“ (LSR S.192)
Musik 4: Night Parade
Interpret: Giora Feidman; Album: The Singing Clarinet of Giora Feidman; Label: MACC Records; LC: 96735
Autorin: Das 5. Kapitel des Markusevangeliums erzählt von der 12jährigen Tochter des Synagogenvorstehers Jairus. Jairus bittet Jesus um Hilfe für seine Tochter. Während Jesus noch auf dem Weg ist, heißt es, die Tochter sei gestorben. Apathisch liegt sie auf dem Bett, das Wehklagen der Trauernden hat schon begonnen. Jesus nimmt Vater und Mutter mit sich und geht zu ihr. Er reicht ihr die Hand und richtet sie auf. Den Eltern sagt er, sie sollten ihr zu essen geben.
Jesus stellt wieder Verbindung her: zu ihrem Körper, zu den Eltern und zum Leben. Eine leise Heilung ist das, kein hüpfendes spielendes Kind, aber ein erster Schritt zurück ins Leben.
Im 7. Kapitel des Markusevangeliums hören wir von der Tochter einer Griechin aus Tyros. Die Mutter bittet Jesus, den bösen unreinen Geist, der ihre Tochter plagt, zu vertreiben. Auch Tyros hatte eine Schreckensgeschichte im Jüdischen Krieg. Dort hatte es einen Pogrom durch Griechen gegen die jüdische Bevölkerung gegeben. Und jetzt bittet eine Griechin Jesus um Hilfe? Der fühlt sich erst mal nicht zuständig und stellt sich auf die Seite der Juden. Jesus sagt: „Es ist nicht gut, das Brot den Kindern zu nehmen und es den Hunden hinauszuwerfen.“ Aber die Mutter aber nimmt den Kampf zwischen Juden und Griechen nicht auf. Sie stellt wieder Verbindung her: „Und doch fressen die Hunde von den Resten unter dem Tisch der Kinder“. Auch ihr Kind hat gelitten und soll leben dürfen. Die Mutter stellt Verbindung her: zu ihrem Kind, zu Jesus und unter den verfeindeten Gruppen – und der böse Geist ist verschwunden.
Im 9. Kapitel des Markusevangeliums wird eine weitere dramatische Geschichte von einem Kind in Not erzählt. Ein Vater bringt seinen Sohn zu Jesus, der von frühester Kindheit an einen sprachlosen Geist hat. Dem Jungen hat es angesichts dessen, was er erlebt hat, die Sprache verschlagen. Er knirscht mit den Zähnen, verletzt sich immer wieder selbst und versucht, sich das Leben zu nehmen. Der Geist habe ihn mehrfach ins Feuer und ins Wasser geworfen, so heißt es. Als Jesus sich ihm zuwendet, schreit er laut: Der Schmerz bricht sich Bahn, und dann liegt er wie tot da. Wie die Tochter des Jairus greift Jesus auch den Jungen bei der Hand. Er stellt Verbindung her zu einem, der in seinem Schrecken mutterseelenallein war.
Am Ende sagt Jesus, dass man diesen Geist nur durch Gebet vertreiben kann: indem man Verbindung herstellt – nicht nur zu den Menschen, sondern zum Ursprung und Sinn des Lebens, zur lebensspendenden Macht Gottes.
Musik 5 = Musik 2: Not For Our Sake / Lo Lanu
Autorin: Gemeinsam ist diesen drei Geschichten der Blick auf die Kinder, die an der Gewalt, die sie gesehen haben, verzweifeln. Gemeinsam ist ihnen auch, dass die Eltern mit aller Kraft um ihre geliebten Kinder kämpfen. Wir bekommen wenig davon mit, wie diese kriegstraumatisierten Eltern mit ihren Kindern gelebt haben. Möglicherweise sind die Kinder aus dem Blick geraten, während die Eltern ums Überleben kämpfen mussten. Jesus wendet sich jeweils den Eltern zu. Ihnen gilt es zuerst zu helfen, um den Kindern zu Hilfe zu kommen. Dann wendet sich Jesus den Kindern zu und macht deutlich: Man muss sich um sie kümmern, ihnen die Hand reichen, ihnen Nahrung geben, ihnen Glaube und Zuversicht vermitteln inmitten der Verwüstung. Noch einmal Luzia Sutter Rehmann:
Sprecherin: „Die Zuwendung von den Eltern zu ihren Kindern ist lebenswichtig. Ein Volk stirbt, wenn (…) die Eltern ihre Kinder aus den Augen verlieren. Umgekehrt liegt in den zugewandten Herzen die Kraft für die Zukunft.“ (LSR S.378)
Autorin: Gemeinsam ist diesen drei Geschichten auch, dass ihr Ende so unspektakulär wirkt. Die Tochter des Jairus steht auf, geht umher und bekommt zu essen. Das Töchterchen aus Tyros liegt auf dem Bett und der Dämon ist weg. Der Junge steht aus dem Staub auf. Keines der Kinder hören wir am Ende sprechen oder toben oder spielen. Die Heilung von eingefrorenen Schrecken vollzieht sich leise. Jesus schafft im Schatten des Vergangenen der Gegenwart wieder Raum. Er hilft Menschen, die Schreckliches erlebt haben, wieder in Verbindung zu kommen – mit sich, mit anderen Menschen, mit dem Leben. Er zeigt, dass die Dämonen der Vergangenheit und der Gewalt vertrieben werden können, weil sie keine göttliche Macht haben. Wir wissen heute: Traumatische Erfahrungen können nicht gelöscht werden. Aber man kann mit diesen Erinnerungen leben und sich vom Tod ab- und dem Leben wieder zuwenden. Jesus verweist am Ende auf das Gebet. Das versteht die Theologin Luzia Sutter Rehmann als Gegenrede, als inneren Widerstand, „als Ringen um Menschlichkeit in einer Welt, die Menschlichkeit leugnet“.
Musik 6: Liri
Interpret: Giora Feidman; Album: The Singing Clarinet of Giora Feidman; Label: MACC Records; LC: 96735
Autorin: Die seelische Gesundheit der Kinder in den Geschichten aus dem Markusevangelium war bedroht durch Dämonen und unreinen Geister. Sie wurden wieder heil und haben zurückgefunden ins Leben.
Was lässt sich daraus lernen für die Kinder, deren seelische Gesundheit heute bedroht ist in einer Welt, in der Not und zerstörerische Gewalt allgegenwärtig sind: in den Nachrichten, in den sozialen Medien, in Filmen und bei manchen auch in der eigenen Erfahrung? In einer Welt, in der Sprachlosigkeit und Isolation, Tod und Abschied aus der Coronazeit noch nachhallen. In einer Welt, die von den Kriegen in der Ukraine und in Gaza beherrscht wird. Soziale Medien setzen uns einer Bilderflut aus, die vielfach überfordert. Was braucht es, um das einigermaßen schadlos zu überstehen?
Ich nehme aus der Beschäftigung mit den Kindergeschichten aus dem Markusevangelium mit: Es braucht Eltern und fürsorgliche Erwachsene, die keine Mühen scheuen, um ihre Kinder zu schützen. Es braucht eine behutsame Sprache für die Schrecken der Gewalt. Es braucht Eltern und eine Gesellschaft, die Zuversicht vermitteln und immer wieder Verbindung herstellen: Verbindung zu sich und dem Leben, zu anderen in nah und fern. Verbindung zu dem Sinn und dem Ursprung des Lebens, zum Heiligen, zu Gott.
Zum Schluss: Auch die Geschichte von Sami hat ein gutes Ende genommen. Sie erinnern sich: Er lebt in einer Heimgruppe, weil er zuhause bei den Eltern Alkohol und Gewalt erlebt hat. Erst allmählich ist der Lehrerin aufgefallen, dass er jetzt ab und zu das Tablet weglegt und zaghaft auf andere Kinder zugeht. Und manchmal huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Dann erinnert er sich an den Tag, an dem er seinen Erzieher gefragt hat, warum der schon wieder drei Tage weg sei. Und an seine Antwort. „Ich bin auf einer Fortbildung. Die mache ich, um dich besser zu verstehen und dir besser helfen zu können.“ Dieses warme Gefühl hat Sami den Weg zurück ins Leben geebnet: „Ich bin meinem Erzieher so wichtig, dass er eine lange Fortbildung macht, nur um mich besser zu verstehen:“
Not, Trauer und Schrecken wird es immer wieder geben. Dass wir uns davon nicht bestimmen lassen, sondern das finden, was stärkt und gesund macht, das wünscht Pfarrerin Sabine Haupt-Scherer aus Bielefeld.
Musik 7: Kumi Ori / Uri Tzion (Awake)
Interpret: Giora Feidman; Album: The Singing Clarinet of Giora Feidman; Label: MACC Records; LC: 96735
Quellen: Sutter Rehmann, Luzia: Dämonen und unreine Geister. Die Evangelien, gelesen auf dem Hintergrund von Krieg, Vertreibung und Trauma. Gütersloh 2023.
Redaktion: Pfarrer Dr. Titus Reinmuth