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Kirche in WDR 5 | 07.10.2025 | 06:55 Uhr
Erwartungen
Manchmal stelle ich mir vor, wie mein Leben aussehen würde, wenn alles so läuft, wie ich es mir ausmale. Also, nach dem Drehbuch in meinem Kopf: Ich treffe die richtigen Entscheidungen, bleibe gelassen, bin zur richtigen Zeit am richtigen Ort – und alles passt perfekt zusammen. Und dann kommt das echte Leben. Dinge laufen anders, Menschen reagieren unerwartet, Türen bleiben verschlossen. Und mir wird klar: Erwartungen sind wie kleine Drehbücher, die wir im Kopf schreiben – für uns selbst, für andere, für das Leben. Das Verrückte ist: Dieses Drehbuch wird selten so gespielt, wie wir es uns wünschen. Ich kenne das gut.
Nach meinem Abitur war ich verzweifelt. Ich hatte mich für verschiedene Studiengänge beworben, aber nirgendwo einen Platz bekommen. Gerade 18, die Schule beendet – und plötzlich: nichts. Jeden Morgen rannte ich zum Briefkasten, in der Hoffnung auf eine Zusage. Stattdessen: Absagen. Mein Plan war dahin. Alles, worauf ich gehofft hatte, lag in Scherben.
Und dann geschah etwas Unerwartetes: Ich hab angefangen, mich stärker in meiner Heimatpfarrei einzusetzen. In der Jugendarbeit, bei den Messdienern, in der Zusammenarbeit mit den Priestern vor Ort. Einer von ihnen sprach es schließlich offen aus: „Schau dir doch mal den Beruf der Gemeindereferentin an – das könnte was für dich sein.“ Und er hatte recht. Heute ist genau das mein Beruf. Ganz ehrlich? Den Beruf kannte ich damals gar nicht. Aber heute liebe ich ihn, mit all seiner Vielfalt. Im Rückblick sehe ich: Die Absagen waren kein Misserfolg. Sie waren die Chance für etwas Neues. Für etwas, das ich nie geplant hätte und das am Ende viel wertvoller war als mein ursprüngliches Drehbuch.
Ich glaube, viele kennen das: Erwartungen geben Orientierung, sie helfen uns, Ziele zu haben. Aber manchmal machen sie eng. Wir wollen, dass etwas genauso wird, wie wir es uns vorstellen. Und übersehen dabei, dass das Leben oft kreativer ist als unsere Pläne. Vielleicht ist das sogar ein geistlicher Gedanke: Gott zeigt sich nicht unbedingt in dem, was wir planen, sondern in den Überraschungen, die wir nicht steuern können. In der Bibel finden sich viele Beispiele: Abraham, der seine Heimat verlässt. Mose, der vor dem brennenden Dornbusch steht. Maria, die eine unglaubliche Botschaft hört. Keiner von ihnen hatte das in seinem Lebensplan stehen. Und doch entsteht daraus Segen, neues Leben, Hoffnung. Vielleicht ist das Entscheidende im Leben nicht, dass unsere Erwartungen erfüllt werden. Sondern dass wir offen bleiben-für das, was größer ist als unsere Pläne. Dass wir das Drehbuch mal zur Seite legen und improvisieren. Darum frage ich mich: Welche Erwartungen darf ich loslassen, um die Möglichkeiten wahrzunehmen, die mir begegnen?
Ich wünsche Ihnen heute eine Überraschung, die nicht geplant war und dass Sie darin vielleicht spüren: Es wirkt mehr in unserem Leben, als wir oft denken.
Herzlich grüßt Sie aus Krefeld
Michelle Engel
