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Kirche in WDR 3 | 16.08.2025 | 07:50 Uhr
Mitten im Dilemma
Morgens, wenn der Tag noch nicht entschieden ist, schießen einem ja manchmal merkwürdige Dinge in den Kopf – zum Beispiel, wie oft man eigentlich etwas entscheiden muss.
Nicht nur die großen Fragen. Auch die kleinen, die sich summieren und wo ich oft nicht weiß, ob ich’s richtig mache. Ich entscheide mich für A — und B bleibt liegen. Ich entscheide mich für B. Hätte ich nicht besser A genommen? Oder vielleicht auch C … ? Aller guten Dinge sind drei. — Wofür entscheide ich mich?
Ist man da nicht schon mitten drin im Dilemma?
Was bleibt am Ende auf der Strecke? Mein Ziel – oder sogar: ich selbst?
Manche sagen: Es ist nicht nur die Entscheidung. Es ist diese Angst, etwas zu verpassen: »Fear of missing out«. Das ist der Begriff dafür: FOMO. Als bestünde das Leben aus lauter Supermärkten und Selbstbedienung. Was pick ich mir heraus? Was lass ich liegen? Passiert woanders nicht immer schon was viel Wichtigeres?
Es scrollt im Kopf so rauf und runter … — Was, wenn ich falsch abgebogen bin …, wenn mein Leben eine andere Richtung hätte nehmen können? Ob man das nun FOMO nennt oder Unruhe oder Unrast: Die Wahl zu haben, kann quälen.
Dabei gibt es noch ganz andere Wahl-Qualen. Zum Beispiel die Geschichte von Paul*, einem jungen Arzt. Der hat gerade mit Erfolg sein Staatsexamen bestanden. Paul könnte durchstarten. Er ist glücklich mit seiner Freundin; er möchte sie heiraten. Alles ist gut. — Aber gerade sitzt er in einem Flugzeug nach England, als der Flugkapitän den Ausfall des linken Triebwerks meldet. Und kurz darauf versagt auch das zweite. Die Maschine sackt schon
gehörig ab. Alles schreit, dann wird es totenstill. Das Flugzeug stürzt in die Tiefe, und Paul schießt sein ganzes Leben durch den Kopf. Und er betet und verspricht: »Gott, wenn du mich rettest, dann werde ich mein Leben ganz für die Menschen im Elend der Dritten Welt einsetzen. Ich werde auf Prestige und alles Geld verzichten.« — Mensch, was Paul da alles verspricht. Die Maschine zerschellt auf einem Feld. Und wie durch ein Wunder wird Paul gerettet.
Tja —, was nun …, Paul?
Hält er sein Versprechen? Muss er es nicht halten … — Gott gegenüber? Hätte es Folgen fürs Pauls weiteres Leben, wenn er sein Versprechen nicht einlöst?
Paul sagt sich: Es ist Gottes Wille, dass ich in die Dritte Welt gehe. Ich muss mein Versprechen halten. Kaum glaubt er sich darin sicher, zweifelt er: Gott wird mir das nicht abverlangen. Schließlich war ich in einer Notsituation. Ja, muss der Mensch überhaupt etwas leisten gegenüber Gott?
Das sind nun wirklich große Fragen. Und es geht um mehr als um Moral. Es ist ein echtes Dilemma. Zwei Wege. Beide sind begründet. Aber nur einer lässt sich gehen. Viele unserer Entscheidungen sind nicht rein logisch, sondern mit etwas Innerem verbunden. Mit Gewissen. Mit Haltung. Mit einer Ahnung von Verantwortung, die uns keiner abnehmen kann.
Wir können nicht immer die richtige Wahl treffen. Wir können aber darauf vertrauen, dass unser Leben gehalten ist, auch wenn wir uns irren. Da ist einGrund, der tiefer reicht als unsere Entscheidungen. Darauf setze ich.
Gute Entscheidungen und dazu Gottes Segen — das wünsche ich Ihnen: Ludger Verst, Köln
* Das sog. Paul-Dilemma wird erstmals vorgetragen in: Fritz Oser & Paul Gmünder, Der Mensch —Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz. Zürich / Köln. 1988, S. 119 f