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Das Geistliche Wort | 20.07.2025 | 08:40 Uhr
Hätte, hätte, Fahrradkette
Guten Morgen!
Es gibt Redewendungen, die tauchen einfach so auf. Keiner weiß genau, wer sie erfunden hat, aber sie sind in der sprachlichen Pipeline und führen ein hartnäckiges Dasein. So eine Redewendung ist zum Beispiel „Hätte, hätte, Fahrradkette“. In Wiktionary habe ich gelesen, dass sie in den 2010er Jahren angefangen hat zu trenden, wie es neudeutsch heißt. Wer auch immer diesen Spruch in das deutsche Sprachleben gebracht hat – bei mir hat er Wurzeln geschlagen. Weil er sich so schön rhythmisch und spaßig anhört? Könnte gut sein. Aber für mich steckt in diesem Spruch viel mehr. Denn er hinterfragt, wie ich mit verpassten Chancen, falschen Entscheidungen und schicksalhaften Ereignissen in meinem Leben umgehe. Ich bin Birgitt Schippers, freie Kulturjournalistin und Theologin und ich habe mir Gedanken gemacht über: „Hätte, hätte, Fahrradkette!“
Musik 1: Robert "Bob" James, Ambrosia
Hinter dem Spruch „Hätte, hätte, Fahrradkette“ steckt auf jeden Fall großes Ärgerpotenzial – habe ich selbst erlebt. Nach einem anstrengenden Tag hatte ich einer guten Freundin völlig entnervt erzählt, dass ich doch besser den früheren Zug genommen hätte, dann wäre ich nicht in eine Verspätungswelle des Bahnverkehrs geraten und rechtzeitig zu einem wichtigen Gesprächstermin gekommen. Das Gespräch verlief dann aufgrund meiner Verspätung nicht optimal. Doch statt mich zu bedauern kam von meiner Freundin völlig ungerührt der Satz: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Ich wäre ihr am liebsten ins Gesicht gesprungen, denn ich fühlte mich überhaupt nicht ernst genommen. Ich konnte doch nicht vorher wissen, dass sich mein gebuchter Zug so dramatisch verspätet. „Du hast eben eine falsche Entscheidung getroffen,“ stellte meine Freundin fest und wechselte das Thema. Damit musste ich erst einmal umgehen.
Tatsache ist: es vergeht kein Tag, ohne dass ich Entscheidungen treffen muss – und sie sollen im Ergebnis natürlich optimal meinen Wünschen und Sehnsüchten Rechnung tragen. Der Kabarettist Florian Schroeder philosophiert in seinem Buch „Hätte, hätte, Fahrradkette“ selbstkritisch über die Kunst der optimalen Entscheidung. Er stellt fest: ob in der Wahl des Restaurants, der Geldanlage oder in der Partnerwahl - der Druck ist heute groß, die optimale Entscheidung für ein perfektes Leben ohne Reue zu treffen. Auch die Freiheit, unter vielen Optionen wählen zu können, ist für ihn ein Problem, denn sie macht Menschen leicht unzufrieden und reizbar. Nicht zuletzt, weil mit ihr auch die Angst vor dem Scheitern verbunden ist. Also dann doch besser gar keine Entscheidungen mehr treffen, um nichts mehr bereuen oder hinterhertrauern zu müssen? Sie werden mir Recht geben – das ist völlig unmöglich.
Musik 2: Robert "Bob" James, Touchdown
Es sind aber nicht nur die eigenen freien Entscheidungen, die zum Problem werden können. Manche Entscheidungen werden auch über mich hinweg getroffenn und ich bin ihnen ohnmächtig ausgeliefert - in der Politik wie im privaten Leben. Eine mir sehr liebe Tante, fast 90 Jahre alt, erzählte mir auf einem Spaziergang von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf. Sie hatte schon als Kind gerne viel gelesen, war neugierig und ging mit Begeisterung zur Schule. Ihre Mutter erkannte schon früh die Begabung ihrer Tochter und versprach ihr, sich beim Vater dafür einzusetzen, dass sie in eine weiterführende Schule gehen und dort Abitur machen könnte. Doch ihre Mutter wurde krank und starb. Ihr Vater stand allein da mit drei Kindern und heiratete noch einmal. Mit dieser Frau bekam er noch zwei weitere Kinder. Für meine Tante war dies ein Schicksalsschlag. Denn ihre Stiefmutter bevorzugte ihre eigenen beiden Kinder. Meine Tante sollte im Dorfladen und im Haushalt mithelfen, von weiteren Schulbesuchen war keine Rede mehr. Hätte ihr Vater sich nicht wenigstens für die begabte Tochter einsetzen können? Er tat es nicht, denn sein Frauenbild war sehr traditionell und für ihn war es selbstverständlich, dass seine Tochter als billige Arbeitskraft mithalf und später heiraten würde. Meine Tante, auch ohne weitere Schulbildung eine kluge Frau, schaut bis heute ohne Bitterkeit auf ihren Lebenslauf und hat ein offenes Herz für Menschen behalten. Die Frage, „was hätte ich mit Abitur alles machen können“ stellt sich für sie nicht. Sie hat mit ihrem kurzen Bildungsweg schon in jungen Erwachsenenjahren ihren Frieden gefunden, denn sie wusste, dass sie nichts gegen ihr Schicksal hätte machen können. Jetzt könnte ich ihr vorwerfen, sie wäre fatalistisch. Aber da würde ich ihr Unrecht tun. Sie war und ist ganz einfach eine pragmatisch-realistische Frau und konnte ihr Schicksal annehmen – ohne Frust und Trotz. Die selbstquälerischen Fragen, die sich mit dem Satz „Hätte, hätte, Fahrradkette“ verbinden, kamen in ihrer Gedankenwelt nicht vor. Sie strahlt bis heute eine heitere Gelassenheit aus und ist mit ihrem Lebensweg versöhnt.
Musik 3: Robert "Bob" James, Westchester Lady
Mit dem Schicksal ist es so
eine Sache. Im Alltag gibt es ja immer wieder Situationen, in denen ich auch spontan
Entscheidungen treffe. Das können ganz banale Entscheidungen sein. Ich erinnere
mich gut an so eine Situation: Ich war in Eile und musste noch schnell in einem
Supermarkt etwas einkaufen. Als ich wieder auf der Straße stand, habe ich kurz
überlegt, welchen Weg ich nach Hause einschlagen soll. Ich habe mich spontan
entschieden, nach links abzubiegen.
Da
traf ich auf eine gute Bekannte, die ich lange nicht mehr gesehen, aber an die
ich schon oft gedacht habe. Die Freude über das unverhoffte Wiedersehen war
groß. Wir waren beide in Eile, tauschten nach kurzem Smalltalk unsere
Mobilnummern aus und haben uns wenige Tage später auf einen Kaffee getroffen.
Es stellte sich heraus, dass wir beide eine Trennung verkraften mussten und es
hat uns sehr gutgetan, miteinander zu reden. Hätte ich den Weg rechts die
Straße herunter eingeschlagen, dieses Wiedersehen wäre nicht möglich geworden. Hätte,
hätte, Schicksalskette, würde ich heute sagen.
Es sind solche Erfahrungen, in denen ich das Gefühl habe, von guten Mächten geleitet worden zu sein. Doch was ist, wenn Entscheidungen nicht so beglückend ausgehen und katastrophale Folgen haben? So eine tragische Verkettung von Umständen mit weitreichenden Folgen habe ich als Kind erlebt.
Mein Vater hatte sich entschieden, mit meiner Mutter und mir in Süddeutschland über eine Landstraße einen Berg herunterzulaufen. Er achtete auch darauf, dass wir vorschriftsmäßig am linken Straßenrand auf der Grasnarbe liefen. Also alles ganz entspannt. Dann aber, an einer Kurve, überholte ein französischer Militärjeep in hohem Tempo einen Linienbus und hat uns als Fußgänger am Straßenrand zu spät gesehen. Wir wurden von dem Auto erfasst, und meine Eltern schwer verletzt. Mir ist wie durch ein Wunder nichts passiert. Der Militärjeep stürzte den Abhang hinunter und brannte aus. Gottseidank überlebten die französischen Soldaten. Sie wurden allerdings unehrenhaft aus der Armee entlassen, obwohl mein Vater für sie noch ein gutes Wort eingelegt hatte. Unsere Familie brauchte eine lange Zeit, dieses Ereignis zu verarbeiten. Ich hatte Jahre lang Ängste einzuschlafen, meine Mutter verfiel in eine Depression. Doch über dieses tragische Geschehen wurde ein Mantel des Schweigens gelegt. Auch wenn bei uns zu Hause gebetet wurde, und wir jeden Sonntag in den Gottesdienst gegangen sind – mir hat es nicht geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. Gott erschien mir nicht mehr als der liebe Gott, der mich beschützt. Und da ist sie wieder „die hätte, hätte, Fahrradkette-Schicksalsfrage“: Hätte die französischen Soldaten nicht der Übermut gepackt und sie wären langsamer gefahren, hätten wir einen anderen Weg eingeschlagen, hätte der Bus Verspätung gehabt, dann wäre dieser Unfall nicht passiert. Niemand hat ihn gewollt. Aber trotzdem ist es anders gekommen. Und ich frage mich: War das Gottes Wille? Kann ich Gott verantwortlich machen für das, was ich erlebt habe? Ganz ehrlich, ich meine nein. Mit Gott zu zürnen, Gott alle Schuld zu geben, hilft mir überhaupt nicht, mit meinem Leben klarzukommen. Ich habe von Gott die Freiheit bekommen, eigenständig Entscheidungen zu treffen – zum Guten wie zum Schlechten. Wenn Gott immer eingreifen würde, um meine Entscheidungen zu korrigieren, würde meine Freiheit eingeschränkt. Und das will ich nicht. Aber wie komme ich dann mit leidvollen Erfahrungen klar? Der leidgeprüfte Hiob im Alten Testament stellt für mich die entscheidende Frage (Hiob 2,10): „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“.
Musik 4: Georges Bizet, Farandole (Robert "Bob" James)
Die Sehnsucht der Menschen, Unglück zu verhindern und das Glück herbeizuzwingen, ist groß. Und der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nicht von ungefähr haben Science-Fiction-Filme und -Romane zum Thema Zeitreisen Hochkonjunktur. Sie spielen mit dem Gedanken, Begebenheiten in der Vergangenheit so zu verändern, dass ihre katastrophalen Folgen für die Gegenwart verhindert werden. Schon in jungen Jahren beeindruckte mich die Fernsehserie „Time Tunnel“ oder Kino-Filme wie „Zurück in die Zukunft“ und „Butterfly Effect“. In allen diesen Geschichten scheitern die Menschen mit ihrem Versuch, durch die Manipulation der Vergangenheit die Gegenwart besser zu machen. Denn sobald sie eine Begebenheit und damit die Zeitgeschichte verändert haben, traten in der manipulierten Gegenwart neue Probleme auf, die niemand gewollt hatte. Also nicht einmal in der fiktionalen Welt können wir Menschen am Schicksalsrad drehen, um eine bessere Welt zu schaffen.
Hätte, hätte, Fahrradkette – wie oft ist der Blick zurück verbunden mit schmerzlichen Wahrheiten: Verpasste Chancen, gescheiterte Lebensentwürfe, die Erkenntnis von eigenem Versagen und Schuld: es ist nicht immer einfach, damit umzugehen. Ich komme noch einmal zurück zu dem Kabarettisten Florian Schroeder. In seinem Buch „Hätte, hätte, Fahrradkette“ gelangt er zu der Überzeugung, dass es unmöglich ist, das perfekte Beste im Leben zu erreichen. Bestenfalls sieht er eine Chance, sich dem Besten anzunähern. Sein Ratschlag: eigene Erwartungen an sich und das Leben herunterschrauben und aufhören, sich mit anderen zu vergleichen. Er fordert am Ende des Buches radikal: Schluss mit dem Spruch: „Hätte, hätte, Fahrradkette“.
Musik 5: Robert "Bob" James, Angela
„Hätte, hätte, Fahrradkette“ – ich möchte diesen Spruch nicht so radikal ablehnen, wie Florian Schroeder es vorschlägt. Für mich verweist dieser Spruch mit seinem flapsigen Vergeblichkeitshinweis auf eine tiefe Wahrheit. Es ist ein Unding zu glauben, ich könnte an der Vergangenheit irgendetwas ändern, indem ich mich immer wieder über sie aufrege oder sie mit Enttäuschung selbstquälerisch betrachte. Ich glaube, es ist wichtiger, mit dem eigenen Lebenslauf seinen Frieden zu finden. Eine ehrliche Bestandsaufnahme der Erlebnisse in der Vergangenheit ist sicher hilfreich. Manche Fehlentscheidungen hätte ich vermeiden können, aber sie sind nicht mehr rückgängig zu machen. Womöglich war ich damals gar nicht in der Lage, die richtige Entscheidung zu treffen. Schwamm drüber. Es tut gut, sich selbst zu verzeihen. Für mich hat Albert Einstein einen guten Satz geprägt: „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.“ Ich glaube, der beste Weg zur Lebenszufriedenheit ist, mit Zuversicht und Vertrauen auf gute Fügungen in die Zukunft zu blicken. Alles hat seine Zeit – und Gott ist mit uns. Davon bin ich überzeugt.
Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit – Ihre Birgitt Schippers aus Köln
Musik 6: Earl Klugh, Kari (Robert "Bob" James)
Quelle:Florian Schroeder, „Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Kunst der optimalen Entscheidung“. Rororo, 2014 (vergriffen, im Antiquariat erhältlich)