Beiträge auf: wdr5
Das Geistliche Wort | 17.08.2025 | 08:40 Uhr
„Mit Leib und Seele – gesegnet fürs Leben“
Seit zwei Tagen duftet es in meiner Wohnung ganz besonders:
Es ist der Duft von Kamille, Rosen,
Salbei, Minze und weiteren Kräutern. Alles Pflanzen, die in den letzten Tagen
gesammelt und in liebevoller Handarbeit zu Sträußen gebunden wurden.
Die Sträuße wurden dann in einem Gottesdienst gesegnet und an die Gemeindemitglieder verteilt. Ein alter und sehr schöner Brauch, der am Festtag „Maria Himmelfahrt“ – also vor zwei Tagen am 15. August – gepflegt wurde. Und das nicht nur hier im Raum Marsberg im Hochsauerlandkreis, wo ich als Priester tätig bin, sondern in vielen Regionen, sogar über Deutschland hinaus. Und da ich auch so einen wunderbaren Strauß bekommen habe, duftet es in meiner Wohnung ganz besonders.
Aber was hat dieser Brauch mit dem Fest zu tun, das von der „leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel“ spricht? – Das alleine klingt schon schwer verständlich genug, wirkt abgehoben und was soll dann das einfache Sammeln und Segnen von Kräutern. Wie passt das zusammen? Eine hochtheologische Aussage über Maria – und ein duftender Kräuter- und Blumenstrauß aus Garten- und Heilkräutern – was haben die miteinander zu tun? Das hat mich so interessiert, dass ich dem einmal nachgegangen bin – nicht nur weil ich im Maria-Himmelfahrtsgottessdienst die duftenden Sträucher gesegnet habe, sondern weil dieser Tag eine alte Tradition hat, die kaum noch jemand versteht.
Und was auf den ersten Blick vielleicht überhaupt nicht zusammengehört, hat doch eine ungeahnte tiefe Verbindung. Ich lade Sie ein, mit mir dem Kräutersegen an Maria Himmelfahrt einmal nachzugehen.
Musik I: John Rutter, Magnificat (The Cambridge Singers, City of London Sinfonia)
Es ist 75 Jahre her. Papst Pius XII. verkündete am 1. November 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, die am 15. August gefeiert wird. Dabei begeht die Christenheit das Fest schon seit dem 5. Jahrhundert und der Gedanke dahinter wird auch von den altkatholischen und orthodoxen Kirchen anerkannt: Maria ist bei Gott – mit allem, was sie im irdischen Leben ausgemacht hat, eben mit Leib und Seele. „Dass Marias physiologisch toter Körper gen Himmel geschwebt sei, das ist mit dem Dogma nicht ausgesagt.“[1]
Das Dogma klingt für viele Menschen heute fremd und zählt sogar bei vielen Katholiken sicherlich nicht gerade zu den zentralen Glaubensinhalten. Aber vielleicht lässt sich dem Gedanken der leiblichen Aufnahme ja doch noch etwas abgewinnen?
Bemerkenswert ist bereits die Tatsache, dass ihr Tod so beschrieben wird, sie sei entschlafen. Der Ort in Jerusalem, wo das begangen wird ist nämlich die deutschsprachige Benediktinerabtei „Dormitio“, zu Deutsch: „Entschlafung“. Und Papst Pius XII. hat bewusst im Dogma die Frage um den leiblichen Tod der Gottesmutter offengelassen.[2]
Ich stelle mir das nun so vor: Maria ist nach ihrem Tod nicht einfach „weg“ – sondern sie ist ganz bei Gott. Und noch mehr: Nicht nur ihre Seele lebt weiter, sondern auch ihr Leib hat Anteil an Gottes Herrlichkeit. Und mit Leib verbindet sich alles, was man durch seinen Körper erlebt und erlitten, erfahren und empfunden hat. All das hat eine Bedeutung über diese Welt hinaus.
Papst Franziskus hat es in einer Predigt einmal folgendermaßen umschrieben: „Die Gottesmutter hat ihren Fuß in das Paradies gesetzt: Sie ging nicht nur im Geist dorthin, sondern auch mit ihrem ganzen Selbst.“[3]
So wird Maria das zuteil, was nach christlichem Verständnis allen Menschen verheißen ist: Der Tod ist nicht das Ende. Es gibt ein Leben nach dem Tod und in diesem Leben geht es Gott um den ganzen Menschen.
Alles, was jeden einzelnen Menschen ausmacht – wer wir sind und wie wir sind –, findet Platz bei Gott. Dazu zählt auch der Alltag: Was wir tun, wie wir leben, wie wir fühlen, wie wir lieben – das alles ist Teil von uns und findet Aufnahme, Heilung und Vollendung bei Gott.
Das soll exemplarisch an Maria deutlich werden: alles – ihre Hände, ihre Füße, ihre Wege, ihre Umarmungen, ihr Herz, ihr Glaube, ihr „Ja“ zu Gott ist bei Gott aufgehoben. Sie hat ganz bei Gott zum Heil gefunden.
Eine Legende erzählt: die Apostel seien am dritten Tag nachdem Maria beigesetzt worden war, zu Ihrem Grab gekommen. Und – sie fanden es leer. Klingt ganz nach der Auferstehungsgeschichte Jesu, jedoch mit einem kleinen Unterschied: aus dem Grab Marias strömte der Geruch von Rosen und Lilien und frischen Kräutern. Und das bringt uns dem Brauchtum näher, Kräuter zu sammeln und zu segnen.
Musik II: Antonio Vivaldi / Max Richter, The four seasons: Spring (Max Richter, Orchester)
Kräuter können ja auf unterschiedlichste Weise helfen. Das wussten die Menschen schon lange vor der modernen Medizin. Daran knüpft nun an die Tradition der Kräuterweihe. Bereits im frühen Mittelalter wurden zu Maria Himmelfahrt Kräuter gesammelt: Heilpflanzen, Gewürze, Blumen. Oft wurden sie zu Bündeln zusammengesteckt, auf dem Speicher getrocknet gelagert, um sie das ganze Jahr über verwenden zu können. Kein Hexenwerk, sondern frühe Heilkunde, wie man bei Hildegard von Bingen nachlesen kann, der Symbolfigur der Klostermedizin des 12. Jahrhunderts. Immerhin schrieb sie Werke über die Naturkunde (Physica) und die Heilkunde (Causae et curae).[4]
Aber zurück zu den Kräutern. Warum werden sie gerade jetzt an Maria Himmelfahrt gesegnet?
Die Antwort ist ganz einfach: Weil der August die Zeit ist, in der die Natur in voller Reife steht. Jetzt ist Erntezeit. Die Äcker und Wiesen stehen voll. Die Kräuter stehen in voller Kraft. Der Sommer neigt sich – aber er gibt noch einmal alles. Und darin sehe ich ein wunderbares Bild für Maria: Sie hat auch ihr Leben voll und ganz für Gott gegeben, so dass aus ihr das Leben selbst geboren wurde, nämlich Jesus, Gottes Sohn, der den Menschen wiederum das Heil gebracht hat.
Gottes Heil kann sich so bildlich in den heilenden Kräutern zeigen. Und die Kräuter dann zu segnen, sie sozusagen Gott zu weihen, ist daher für mich eine Erinnerung daran: Gott ist nicht weit weg – er ist dort, wo Leben blüht, heilt, duftet und trägt.
Darum lohnt sich auch mal ein Blick auf einzelne Blumen und Kräuter, die sich im Kräuterstrauch von Maria Himmelfahrt finden lassen.
Da ist zum einen das Johanniskraut: Es blüht bereits um den 24. Juni, dem Fest Johannes des Täufers, wenn die Sonne am höchsten steht – daher auch der Name „Sonnenwendkraut“ oder „Lichtpflanze“. Sein leuchtendes Gelb gilt als Zeichen der Hoffnung. Und so glaubt man, es könne das „dunkle Gemüt“ erhellen. Immerhin soll es bei leichten Depressionen helfen. Mich erinnert die helle gelbe Blüte des Johanneskrautes jedenfalls daran: Licht ist stärker als Finsternis – auch in meinem Innersten.
Dann ist da die Kamille: Sie ist schlicht und bescheiden – wächst auf Wegen, an Feldrändern und wird oft übersehen. In ihrer Unaufdringlichkeit zeigt sich für mich eine zarte Kraft – so wie eine stille Liebe, die oft tief ist. Und sie hat heilende Kräfte, wirkt beruhigend, entzündungshemmend, ja sogar tröstend. Ich habe gelesen: Als Symbol steht die Kamille für Sanftheit und Beständigkeit – wie ein stiller Segen im Alltag.
Zum Kräuterstrauß gehört der Beifuß: Er zählt zu den ältesten Kultpflanzen Europas und wird als Gewürz benutzt. Schon bei den Kelten wurde er verehrt und später von der christlichen Tradition übernommen. Dann wurde er bei Prozessionen mitgetragen und an die Türen gebunden, um Unheil abzuwehren, vielleicht weil seine Stängel etwas robuster sind. Man könnte im übertragenen Sinne sagen: Der Beifuß stärkt die Seele gegen Angst, Unruhe und das, was den Menschen innerlich lähmt. Und im Marienbrauchtum steht er daher für Schutz und Geborgenheit.
Dann ist da noch die Schafgarbe, deren Blätter
fein und zart gegliedert, fast wie ein filigranes Netz sind, und kräftig wirken
vor allem bei Krämpfen.
Sie wirkt entzündungshemmend und steht wahrscheinlich deshalb für Wundheilung,
Ausgleich und neue Lebenskraft. In ihrer zarten Stärke zeigt sich symbolisch
gelesen: Heilung braucht Geduld – und die Zeit, sich dem Leben wieder zu
öffnen.
Schließlich der Thymian: Seine Gestalt ist klein, aber dafür verbreitet er einen intensiven Duft. In der Antike, so heißt es, verlieh er Mut, so dass sich Soldaten damit einrieben, um Kraft und Tapferkeit zu erlangen. Und weil Thymian die Atemwege stärkt, wird in ihm ein Bild dafür gesehen, aufzuatmen und frei zu werden.
Ich weiß, dass ist jetzt nur eine kurze Zusammenfassung dessen, was ich bei meiner Recherche[5] über den Kräuterstrauß in Büchern und im Internet gefunden habe. Ich erhebe auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dafür sind die Wirkkraft und die Bildwelt der Kräuter zu mannigfaltig und teilweise gibt es auch regionale Unterschiede bei der Zusammenstellung des Kräuterstrauches.
Jedoch zeigt mir schon dieser kleine Einblick: Egal, wie man zu diesen homöopathischen, medizinischen oder einfach nur symbolischen Bedeutungen stehen mag, für mich bedeutet es, diese Pflanzen mit ihren jeweiligen Wirkweisen bringen Segen: Gott wirkt in all dem, was heilt, indem, was ich mit meinen Händen halten, mit meiner Nase riechen, mit meinem Herzen spüren kann. Religion ist immer auch sinnlich und will konkret erfahren werden.
Wenn also in diesen Tagen gläubige Menschen diese Pflanzen in Ihre Häuser bringen – über die Tür hängen, in die Küche stellen, oder vielleicht sogar über das Bett legen – dann sagen sie damit: mein Alltag braucht Segen. Meine Welt braucht Heilung.
Musik III: Agnes Obel, Riverside
Die Welt braucht Heilung. Das wusste selbst Maria schon, die Mutter Jesu. Oft wird sie ja dargestellt als unnahbar – mit Krone, Sternenkranz, zum Himmel erhoben mit blauen und goldenen Gewändern. Doch die Maria, von der die Bibel erzählt, war eigentlich ganz anders. Ohne viel Glanz und Prunk. Wenn ich es recht bedenke: Sie hat Windeln gewechselt, Wasser geschleppt, gebetet, gelacht, gehofft, geschwiegen. Sie hat einen Sohn geboren – und – was für eine Mutter vielleicht das Schlimmste ist – sie hat ihren Sohn sterben sehen, und zwar am Kreuz. Eine bodenständige Frau. Ein einfacher Mensch. Von Göttlichkeit keine Spur.
Genau so hat der Künstler Thomas Jessen Maria in einem Bild dargestellt. Das Bild hängt in der Pfarrkirche St. Clemens in Drolshagen im südwestlichen Sauerland. Es ist ein modernes und ungewöhnliches Altarbild. Maria trägt hier eine Jeans und steht auf einer Leiter, wie jemand der gerade seine Wohnung renoviert. Dieses Altarbild hat seinerzeit eine große Diskussion entfacht. Nicht nur in der dortigen Kirchengemeinde, sondern in weiten Teilen der katholischen Welt. Das brachte sogar überregionale Medien und selbst die Tagesschau auf den Plan. So wurde zur besten Sendezeit über diese ungewöhnliche Darstellung berichtet. Maria als Alltagsmensch. Ein Mensch wie du und ich.
Ob man es mag oder nicht – dieses Bild bringt mir Maria näher in meinen Alltag. Der ist eben auch durchwoben von Arbeit, Brüchen und Verletzungen. Und genau da ist mir Maria nah. Sie weiß, was es heißt, Mensch zu sein. Sie weiß, was Liebe kostet. Sie weiß, wie sehr das Leben nach Heilung schreit.
Maria hat gelebt wie wir. Sie hat geglaubt, gehofft, gelitten, geliebt. Und sie hat in alledem Gott Raum in ihrem Leben gegeben.
Deshalb heißt es von ihr in der christlichen Tradition: Sie ist ganz bei Gott angekommen. Nicht nur mit ihrem Glauben – sondern mit ihrem ganzen Menschsein. Und damit bin ich wieder bei dem Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.
Musik IV: Ben Howard, Keep your head up (Ben Holward, Ensemble)
Maria Himmelfahrt und Kräutersegnung. Das klingt alles schön und sinnlich – aber irgendwie auch ganz schön weit weg.
Dabei will dieses Fest sagen: Es geht um jeden einzelnen Menschen! Es geht um Sie und um mich, und zwar mit allem, was jeder von uns ist. – Das Leben ist nicht bedeutungslos, trotz oder gerade wegen seiner vielen Facetten.
Und ich will nicht glauben, dass das, was ich oder ein Mensch für andere gibt, verloren geht. Ich will glauben, dass die Liebe Spuren hinterlässt. Dass all das, was heilt, weiterwirkt.
Ich erahne, dass es mehr gibt als das Sichtbare. Und dass es ein Licht gibt, das man vielleicht nicht sehen, aber doch spüren kann.
Mir hilft dabei der Strauß Kräuter und sein Duft. Ihn wahrzunehmen, bedeutet einen Moment der Stille. Über ihn nachzudenken, ist wie ein innerliches „Ja“ zum Leben sagen. Ihn zu verwahren, ist wie ein Wunsch nach Heilung. Ihn zu segnen, ist wie eine Hoffnung auf eine himmlische Welt.
Einen guten, einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Pastor Sascha Heinrich aus Marsberg
Musik V: Antonio Vivaldi / Max Richter, The four seasons: Autumn2 (Max Richter, Louisa Fuller, Natalia Bonner)
[1] https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2020-11/70-jahre-dogma-leibliche-aufnahme-maria-himmelfahrt-pius-xii.html .
[2] Vgl. ebd.
[3] Predigt von Papst Franziskus zum HOCHFEST MARIÄ AUFNAHME IN DEN HIMMEL Petersplatz Samstag, 15. August 2020.
[4] Vgl. Grün, Anselm, Sieben Kräuter für die Seele. Heilsames aus dem Klostergarten, Münsterschwarzach 2020.
[5] Vgl. u.a. wikipedia.de; fichtelkräuter.de und Storl, Wolf-Dieter, die ‚Unkräuter‘ in meinem Garten, München 2018.