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Kirche in WDR 3 | 22.09.2025 | 07:50 Uhr
Queere Pause
Es ist neun Uhr morgens. Zwei gelbe Sessel, eine brennende Kerze – und eine Schülerin, die viel zu erzählen hat. Über die Schule. Über Stress. Über den Druck, alles richtig machen zu müssen. Ich höre zu. Das ist mein Job als Schulseelsorger in Münster. Und natürlich frage ich nach. Nicht, um sie zu prüfen. Sondern um sie zu verstehen. Und trotzdem merke ich: Da ist noch etwas. Unausgesprochen steht was im Raum. Ein rosa Elefant, der nicht gesehen werden will. Aber – ich warte. Denn manches zeigt sich erst, wenn Vertrauen wächst.
Eine Woche später sitzen wir wieder da. Wieder dieselbe Ecke. Wieder die Kerze. Und diesmal ist etwas anders. Die Worte werden ruhiger, ehrlicher – und dann plötzlich sagt sie: „Stephan, ich bin lesbisch.“ Ich lächle. „Das ist schön, dass du das sagen kannst.“ Ein kurzer Moment Stille. Dann spüre ich: Diese Reaktion hat sie nicht erwartet. Kein Zögern. Keine Bewertung. Einfach: Annahme.
Und trotzdem erzählt sie von Angst. Vor dummen Sprüchen auf dem Schulhof. Vor Ausgrenzung. Vor Blicken. Noch wissen es nicht viele – aber die, die es wissen, gehen gut damit um. Auch die Eltern. Was ihr fehlt, ist etwas anderes: Austausch. Mit Menschen, die verstehen, ohne dass sie sich erklären muss. Einfach nur: dazugehören. Nicht trotz, sondern wegen dem, was sie ist.
Also habe ich etwas
organisiert: Die „Queere Pause“. Einmal pro Woche. Ein geschützter Raum – zu
einer geheimen Zeit, an einem geheimen Ort. Wer dabei sein möchte, meldet sich
vorher. Damit niemand begafft wird. Und niemand stören kann. Die ersten Treffen
laufen. Und sie sind gut. Schülerinnen und Schüler kommen. Erzählen. Lachen.
Fragen. Und finden Halt. Es ist kein Spektakel – sondern ein Freiraum. Zwischen
Schulstress und Pausentrubel. Ein Ort, an dem sie sich nicht erklären müssen.
Sondern einfach sein dürfen. Natürlich gab’s auch
Gegenwind. Zwei Aufkleber mit Regenbogen wurden abgerissen. Und ein Fake-Profil
schrieb mir auf Instagram:
„Das ist nicht christlich.“ Meine Antwort: Doch. Genau das ist christlich.
Ich will hier gar nicht herum exegieren, ob Homosexualität, oder sonst eine außereheliche Sexualität, aus Sicht der Bibel Sünde ist oder nicht. Einfach, weil Sünde – was so viel heißt wie die Abwendung von Gott – nicht mein Maßstab ist. Mein Maßstab ist radikale Hinwendung. Als Jesus einer vermeintlichen Sünderin, einer Ehebrecherin, begegnet und über sie ein Urteil fällen soll, sagt er lapidar: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Annette von Droste-Hülshoff sagt es in der Judenbuche so: „Leg hin die Waagschal’, nimmer dir erlaubt! Lass ruh’n den Stein – er trifft dein eignes Haupt!“
Kirche kann ein Ort sein, an dem Menschen sich zeigen dürfen. Ohne Angst. Und ohne Maske. Und ich bin froh, dass ich mithelfen kann, solche Räume zu schaffen.
Ich grüße Sie aus Münster.
Ihr Stephan Orth.