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Das Geistliche Wort | 24.08.2025 | 08:40 Uhr
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Alles Gute zum Alltag
Autorin: „Alles Gute zum Alltag!“ steht auf der Postkarte, die ich meinem Vater geschenkt habe. Sie gefällt ihm so gut, dass er sie sogar gerahmt hat. „Wir können ja nicht nur in besonderen Zeiten leben,“ sagt er, „das Wesentliche ereignet sich doch an den ganz normalen Tagen“. Seine Worte gehen mir nach, jetzt, da meine Lieblingsjahreszeit, der Sommer sich neigt: mit den langen Abenden draußen, Luft auf der Haut, schwimmen im kühlen Wasser, einer anderen Rhythmisierung der Zeit. In wenigen Tagen beginnt die Schule wieder, Kolleginnen und Kollegen kommen zurück ins Büro, der Alltag nimmt mich erneut an die Hand. Alltag, das klingt nach Routine und Pflichten. Doch der Alltag birgt mehr, ist nicht bloß Vorhof zum eigentlichen Leben. Er ist das Leben.
Musik: Alles Gute zum Alltag
Text/Komposition: Samuel Harfst; Album: Alles Gute zum Alltag; Label: 2010 Raketen Records; LC: 19912
Autorin: „Alles Gute zum Alltag“ wünscht der Liedermacher Samuel Harfst. Unser Alltag zwischen Frühstückstisch und Bushaltestelle, zwischen Aktenordnern und Einkaufstaschen, zwischen Kinderlachen und Sorgenfalten besteht aus gewohnten, wiederkehrenden Lebensvollzügen. In vertrauten Abläufen schaffen wir uns Routinen. Das gibt Sicherheit, ein Gefühl von Beheimatung im eigenen Leben. Das Selbstverständliche macht uns das Leben leichter. Die meisten schaffen sich so etwas wie ein „Rezeptwissen“, vorgefertigte Handlungsanleitungen, die wir nicht jedes Mal neu überlegen müssen. Wehe wenn das Gewohnte wegbricht, die Arbeit zum Beispiel. „Ich muss den Tagen irgendeine Struktur geben“, sagt ein Freund, seit ein paar Monaten im Ruhestand. Er muss seinen Alltag neu erfinden. Struktur ist dann nicht Einschränkung, sondern bietet eine Art Rhythmus. Ganz gleich in welcher Lebensphase: Im Rhythmus des Alltags finden wir den Takt unseres Lebens.
Musik: Bolero Triste
Komposition/Interpret: Matthieu Saglio; Album: Fahrt Ins Blaue III (Dreamin' in the Spirit of Jazz); Label: ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 07644
Autorin: Alltag ist wichtig. Strukturen geben Halt. Doch wo in all dem regelmäßigen Leben ist der Freiraum für Veränderungen, für Spontaneität? Die Bedeutung des Begriffs „Alltag“ gibt Hinweise darauf. Zusammengesetzt ist er aus „all“ im Sinne von „vollständig, ganz“ und der indogermanischen Wurzel dhegwh, welche „brennen, warm sein, hell sein“, bedeutet. Der Alltag ist also wörtlich genommen ein „heller Zeitraum“. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Alltag mit einer bürgerlichen Lebensordnung verknüpft und bekam eine leicht negative Konnotation. Doch der „helle Zeitraum“ in seiner Grundbedeutung ist eben nicht nur graue Eintönigkeit. Er birgt stets die Chance das ganz normale Leben, das Alltägliche als helle Zeit wahrzunehmen.
Musik: Sozusagen
grundlos vergnügt
Komposition/Interpretin: Dota Kehr; Album: In Der Fernsten Der Fernen - Mascha
Kaléko 2; Label: Kleingeldprinzessin Records; LC 09274
Ich freu mich, daß am Himmel Wolken ziehen
Und das es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Daß Amseln flöten und daß Immen summen,
daß Mücken stechen und daß Brummer brummen.
Daß rote Luftballons ins blaue steigen.
Daß Spatzen schwatzen und daß Fische schweigen.
Ich freu mich, daß der Mond am Himmel steht
Und daß die Sonne täglich neu aufgeht.
Daß Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl, da steckt ein Sinn dahinter,
Auch wenn die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, daß ich bin.
Autorin: So fröhlich vertont die Musikerin Dota Kehr die Worte von Mascha Kaléko. „Sozusagen grundlos vergnügt“ heißt ihr Gedicht.
An manchen Tagen in allen Tagen „erklettert man die Leiter, die von der Erde in den Himmel führt,“ dichtet Mascha Kaléko weiter. Sie beschreibt das himmlische Vergnügen ganz im Hier. So formuliert sie eine Lebenskunst die darin besteht, das Wunderbare im Alltäglichen zu sehen, sich daran zu freuen. Dünnhäutig, durchlässig den Zauber des Lebens zu spüren. Was es dafür braucht scheint einfach: den staunenden Blick, die Offenheit für Unerwartetes.
Musik: Sozusagen grundlos vergnügt (instrumental)
Autorin: Der staunende Blick auf das eigene Leben lässt sich üben. Durch kleine Änderungen im Alltag, Unterbrechungen, erreicht man eine neue Achtsamkeit. Das können Übungen sein, wie die, dass Sie, wenn Sie sonst immer die Tasse Kaffee oder Tee rechts neben sich stellen, sie einmal bewusst links abstellen. Oder Sie nehmen gezielt einen neuen Weg zur Arbeit oder zu Freunden, vielleicht auch ein anderes Verkehrsmittel. Mal mit dem Fahrrad und nicht mit der Straßenbahn. Oder Sie lassen sich auf ein kleines Spiel ein, indem Sie einen Tag lang nur rote Gegenstände berühren. (2) Solche kleinen, kreativen Proben sorgen im Gehirn dafür, dass sich Synapsen neu und anders verbinden. Wir nehmen die Welt und unser Leben neu wahr.
Für mich als Christin ergibt sich ein solcher Perspektivwechsel, ein neuer Blick auf die Dinge immer wieder auch aus meinem Glauben. Aus dem Vertrauen, dass Gott im Alltag gegenwärtig ist. Immer wieder kann ich das spüren. Wie vor einiger Zeit bei einer zufälligen Begegnung im Supermarkt, als eine Bekannte genau die richtigen Worte wählt. Es ist ein paar Tage nach der Beerdigung meines Vaters. Ich treffe sie und gebe zwischen Himbeermarmelade und Knäckebrot ganz ehrlich Antwort auf die Frage, wie es mir geht. „Ich bin sehr traurig,“ sagte ich, „aber auch getröstet, wie friedlich sein Sterben war.“ Meine Bekannte weicht nicht aus: „Ach, das ist sicher eine schwere und intensive Zeit und zugleich ist es schön, dass er so gehen konnte,“ sagt sie. Es ist für mich wie eine Umarmung aus Worten. Alltagstrost zwischen verpackten Lebensmitteln. Ja, und dann war da der Konflikt mit einer Kollegin, irgendwie schien jede Mail die Sache nur noch schlimmer zu machen. Schließlich treffen wir uns zufällig an der Kaffeemaschine. Direkte Worte, Aug in Aug und die Sache war ehrlich und für beide gut aus der Welt. Mitten im Arbeitsalltag ein lichter Moment der Erleichterung. Oder neulich, als ich am frühen Abend im Wald war. Die Sonne blinzelt immer wieder durch das Blätterdach, fällt mir ins Gesicht; ein paar beschwingte Schritte und viele Blicke ins Grün. Ein kleiner Alltagssegen, denn in dieser kurzen Zeit in der Natur spüre ich einen Moment lang die Gewissheit, dass ich nicht allein bin. Das sind Augenblicke des Staunens, die das Leben verändern.
Wohl darum ist Jesus auch Menschen mitten im normalen Leben begegnet, in ihrem Alltag.
Eine besonders schöne Begegnungsgeschichte ist die Folgende:
Sprecher: „Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll! Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ (3)
Autorin: Maria und Marta sind unterschiedliche Schwestern. In der abendländischen Tradition wurden sie gegeneinander ausgespielt. Jesu Wort: „Maria hat das gute Teil gewählt“ wurde als Beurteilung der Marta gelesen. Als sei Martas Dienst nicht so viel wert. Als müssten sich Christenmenschen zwischen dem Hören und dem Tun entscheiden. Die Unterschiedlichkeit der Schwestern wurde in eine Rangordnung gepresst. In der Kirche galt das kontemplative Leben bald als höherwertig, das tätig-praktische Leben als notwendig, aber untergeordnet. (4) Die Theologin Dorothee Sölle nimmt in ihren Ausführungen über große Frauen in der Bibel eine neue Sicht aus der Mystik auf. In dieser ist Maria unfertig und am Anfang ihres geistlichen Lebens. Marta fürchtet, dass ihre Schwester „in der Süße (des Hörens) stecken bleibt und den Weg ins Tun nicht schafft. Jesus beruhigt Marta: „Sei beruhigt Marta. Auch sie hat das gute Teil gewählt. Sie wird sich nicht im Hören verlieren. Sie wird selig werden wie du.“ Entsprechend sagt Dorothee Sölle: „Nur beide Schwestern zusammen können Christus beherbergen.“ (5)
Jesus würdigt in seinem Besuch die Unterschiedlichkeit der Schwestern. Er unterbricht ihre Alltagsroutine und öffnet damit eine neue Sicht auf die eigene Person und die je eigene Schwester. Wirklich gesehen, so wie sie sind, wird deutlich wie sehr sie zusammengehören. Spiritualität und Alltag, das Geistliche und das Helfende sind im Christsein nicht zu trennen.
Musik: Andrò
a torino e poi a casa
Interpreten: Trio Loubelya; Album: Rua da alegria; Label: Trio Loubelya; LC: unbekannt
Autorin: Einer, der in seiner Theologie und in seinem Pfarrdienst dem Alltag bereits in den 1960er Jahren große Bedeutung für den Glauben und auch die Kirche gibt, ist der Theologe und Kirchenreformer Ernst Lange. 1927 geboren, in München und Breslau aufgewachsen, studiert er in Berlin, in Sigtuna in Schweden und in Göttingen Theologie und kommt dann als Vikar ins Berliner Landesjugendpfarramt. Hierauf folgen 4 Jahre als Verlagslektor am Burckhardthaus in Gelnhausen, bevor Ernst Lange Ende der 50er Jahre nach Berlin zurückkehrt und Pastor der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Spandau wird. (6)
Ernst Lange sieht seine Mitarbeit in der Kirche als Verantwortung gegenüber der ganzen Gesellschaft. Geprägt von der Tradition der Bekennenden Kirche bilden seine missionarischen Ideen eine starke Hinwendung zur Welt. Wenn Kirche Bedeutung für die Menschen haben soll, muss sie konkret in ihrem Alltag, mitten in ihrer Wohn- und Arbeitswelt präsent sein.
Konsequent weitergedacht, bedeutet das für den Theologen, dass auch der Gottesdienst im Alltag der Menschen stattfinden muss. So gründet Lange 1960 am Brunsbüttler Damm in Berlin, in einem ehemaligen Bäckerladen, die sogenannte „Ladenkirche“. Sie stellt den ersten programmatische Versuch einer „Kirche im Alltag“ dar. Inmitten der Altbauten des Kiezes, ist Kirche dort, wo das Leben tobt, zwischen Supermarkt, Café und Spielplatz. Menschen, die vorübergehen, können einfach reinkommen, denn die Türen öffnen sich nach außen, hin zur Welt. Ernst Lange verfasst bei Beginn seines „Experiments“ Leitsätze, die er zur Diskussion stellt. So sagt er beispielsweise:
Sprecher: „Wir wollen (mit unserem Gottesdienst) weg von dem anonymen „Kirchenbesuch“ und hin zum gemeinsamen Leben in der Gegenwart des Herrn. Wir wollen weg von der aufgeregten Betriebsamkeit perfekter Gemeindeprogramme und hinein in den Spielraum bei Gott und den (Schwestern und) Brüdern. Wir wollen weg von der Almosenfrömmigkeit und hin zum nachbarschaftlichen Dienst.“ (7)
Autorin: Christsein bewährt sich in der Welt. Das spiegelt sich in den Gottesdiensten am Brunsbütteler Damm. Die Menschen sitzen am runden Tisch, es gibt Kaffee und Kuchen, mitunter Suppe und Brot, nicht als Anhang, sondern als Teil des Gottesdienstes. Alle sind Gäste am Tisch Gottes. Wer kommt muss kein Kirchenprofi sein und alle predigen mit. Im Dialog wird der Bibeltext erkundet. Die Kommunikation des Evangeliums findet im Gespräch statt, die Wirklichkeit der Menschen verwebt sich mit Gottes Wort. Die Menschen teilen miteinander – ihr Leben, ihren Glauben, das Brot.
Musik: Sozusagen grundlos vergnügt
In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
- weil er sich selber liebt- den Nächsten lieben.
Ich freue mich, daß ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Daß alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freu mich, daß ich…Daß ich mich freu.
Autorin: Die von Ernst Lange entwickelten Gottesdienste am Runden Tisch werden heute noch in Räumen der Lutherkirche in Berlin-Spandau gefeiert. Großer Beliebtheit erfreut sich an vielen Orten das Konzept des „Wohnzimmergottesdienstes“: Keine Kirchenbänke, sondern gemütliche Sitzgruppen mit einem Tisch in der Mitte. Dazu Getränke und ein kleines Abendessen. Keine Choräle, sondern Popsongs, die manchmal zu Gebeten werden. Und dann Gespräche über die großen Fragen des Lebens. Der Glaube im Setting des Alltags.
So ist Ernst Langes „Kirche im Alltag“ bis heute Inspiration für viele nachfolgende „Experimente“ von Kirche im Alltag. Erprobungsräume, in denen an ganz verschiedenen Orten Begegnungen und Gespräche initiiert werden, große Tauffeste an Flüssen, die einladen zum Picknick, zum Sonntag im Grünen. Neue Gemeindeformen, die ein Teil des Alltags der Menschen werden wollen, ein Teil der „hellen Zeit“. Um Menschen in all dem zu begleiten, was sie beschäftigt. Dem Schweren und dem unverhofft Leichten.
Musik: Shapes
Komposition: Wolfgang Haffner; Album: Fahrt ins Blaue (Relaxin in the Spirit of
Jazz); ACT Music + Vision GmbH & Ko KG; LC: 07644
Autorin (overvoice): Den Alltag als helle Zeit wahrzunehmen, ist eine Kunst. Manchmal schenkt sie sich mir. Aber ich kann auch meinen Blick schärfen für die kleinen Lichtmomente, die Sonnenstrahlen auf dem Tisch, das gelöste Lachen der Freundin. Ich suche spontan Unterbrechungen, ein kurzes Gehen ohne Ziel, die kleine Zeit für ein Telefonat. Zudem versuche ich bewusst wahrzunehmen, was mich unterbricht, anstatt es zu überhören. Der Vogelruf am Morgen, das Glockenläuten Samstagabends durch meine geliebte Stadt. All das sind Momente wie kleine Gebete im Alltag, helle Zeiten, an denen ich dankbar bin, dass ich da bin. Helle Zeit, in der ich Gott dankbar bin für mein Leben. Auch Ihnen wünsche ich mitten im Alltag helle Zeit, verbunden heute mit einem Sonntagsgruss.
Ihre Susanne Wolf aus Wuppertal.
Musik: Shapes
Fortsetzung
Quellen:
(1) Sozusagen grundlos vergnügt - Deutsche Lyrik (aufgerufen 10.08.2025)
(2) Peter Pakulat, Kreativ geht´s selten schief. Die 10 Gebote der Kreativität für mehr Erfolg und Spaß im Leben, 2001.
(3) Lukas 10, 38-42. Lutherbibel revidiert, Stuttgart 2017, 85.
(4) Vgl. Dorothee Sölle, Maria und Marta. Die Einheit von Handeln und Träumen, in: Gottes starke Töchter. Große Frauen in der Bibel, Luzern 2003, 137-143.
(5) aaO., 138.
(6) Zitiert nach Gerhard Altenburg, Kirche-Institution im Übergang. Eine Spurensuche nach dem Kirchenverständnis Ernst Langes, Berlin 2013.
(7) Ernst Lange, „Aus der Bilanz 65“, in: Ders. Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, 1981, 63-160.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth