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Kirche in WDR 2 | 08.09.2025 | 05:55 Uhr
Nächstenliebe in der Wahlkabine
Heute ist wieder Montag, und weil heute Montag ist ist das Wochenende auch schon wieder vorbei. Tja. Und Sie und ich haben ab heute Morgen noch genau eine Woche Zeit, um darüber nachzugrübeln, wer am kommenden Sonntag in Nordrhein-Westfalen unsere Stimme bekommt. Denn am Sonntag sind die Kommunalwahlen. Tja.
Ob Jesus wählen gegangen wäre? Blöde Frage. Damals war Demokratie noch kein Thema. Aber wenn er heute beispielsweise in Köln-Mitte oder in Gelsenkirchen wohnen würde, vielleicht in einer Zwölfer-WG, dann müsste er am Sonntag auch in eine Schule mit diesen Wahlkabinen. Dort, wo man einen Kugelschreiber in der Hand hält, der nicht schreibt und dann auf so einem riesigen Zettel mit vielen fremden Namen ein Kreuz macht.
Christen haben es bei Wahlen nicht unbedingt leichter als andere. Aber es gibt gute Gründe, warum gerade Christen ihr Wahlrecht nicht einfach verschenken sollten. Erstens: Demokratie ist keine Naturerscheinung wie der Regen oder eine Erkältung. Sie lebt davon, dass Menschen hingehen und mitmachen. Zweitens: In vielen Teilen der Welt riskieren Leute ihr Leben, um so etwas wie freie Wahlen zu bekommen. Wenn ich dann sage: „Ach, Netflix ist wichtiger“, ist das ungefähr so, als würde ich die Einladung zu einem tollen Abendessen absagen, weil ich mir doch schon ein belegtes Brötchen gekauft habe. Drittens: Wahlen sind die einzige Gelegenheit, bei der ein Erzbischof, eine Krankenschwester, ein Bauarbeiter und ein Profifußballer exakt gleich viel Gewicht haben – nämlich ein Kreuzchen. Wo gibt es das sonst? Eben.
Und die Politik rückt einem auf einmal ganz schön auf die Pelle, wenn man an die ganz praktischen Fragen denkt: Wer entscheidet, ob mein Kind morgens sicher mit dem Fahrrad zur Schule fahren kann? Wer sorgt dafür, dass im Pflegeheim meines Vaters genügend Personal ist, damit er nicht drei Stunden auf Hilfe warten muss? Wer bestimmt, ob die Schuldnerberatung weiter Zuschüsse bekommt oder ob eine Mehrheit sagt, das müssen die Betroffenen halt demnächst selbst organisieren? Politik ist nicht nur Brüssel und Berlin, sondern auch Bushaltestelle, Müllabfuhr und Krankenhaus.
Jesus hat zwar nie gewählt. Aber er hat ständig Verantwortung eingefordert. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ ist keine Achtsamkeitsübung, sondern eine Handlungsanweisung. Und Nächstenliebe lässt sich am Sonntag bei der Kommunalwahl eben auch mit einem Kreuzchen ausdrücken. Nicht perfekt, nicht endgültig, aber es ist doch besser als nichts, oder? Vor allem, wenn Christen eines nicht tun: so wählen, als ginge es nur um den eigenen Vorteil. „Ich will niedrigere Steuern, alles andere ist mir egal“ – das ist eher eine fiese Botschaft als eine frohe. Christen fragen sich: Was bedeutet meine Stimme für die, die keine Stimme haben? Für die Kinder, die Alten, für die Menschen ohne Lobby?
Am Ende ist das Wahlrecht eine Zumutung. Man muss sich entscheiden, ohne alle Antworten zu haben. So wie Petrus, der aufs Wasser gegangen ist, obwohl er wusste: Eigentlich kann ich das gar nicht. Und genau das braucht diese Demokratie – nicht nur an diesem Montagmorgen.