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Kirche in WDR 2 | 18.10.2025 | 05:55 Uhr
Lebe deinen Traum
Aus dem Augenwinkel lese ich: „Das Leben ist eine Reise. Lebe deinen Traum“.
Daneben ein Buddha mit Blumenkette.
„Sind Sie Buddhistin“, frage ich. „Nein, aber ich finde die Philosophie interessant“, sagt sie.
Ich liege auf einem Stuhl bei einer Kosmetikerin.
„Das Leben ist eine Reise“. Ok, dagegen ist nichts zu sagen. Fest stehen Anfang und Ende und was ist dazwischen? Zwischen Geburt und Tod? Das Leben! Und nun:
„Lebe deinen Traum“ – wenn das so einfach wäre.
Mich macht dieses esoterische, Selbstfürsorge, Aufmerksamtskeits-gequatsche erstmal aggressiv. Ich denke spontan an die Menschen, die auf und von dem Müll leben. In Ghana.
Ich denke an die Männer in den Schützengräben der Ukraine.
Ich denke an die Menschen in Gaza –
Ich denke, an die Krebsstation.
„Lebe deinen Traum“ – wie zynisch muss das in ihrer aller Ohren klingen.
„Lebe Deinen Traum!“ Welchen Traum? Habe ich überhaupt noch Träume? Hatte ich jemals welche? Und: Du? Wie geht es Dir?
„Ach, lass mich doch in Ruhe. Aus und vorbei: Der Traum von der Weltreise. Dem Haus im Grünen. Der glücklichen Familie. Der Traumpartnerschaft.“
Vielleicht sind es manchmal nur die klitzekleinen Träume, die man leben kann. Vielleicht den Traum von: Ich erlaube mir etwas zu tun, was ich mir bislang versagt habe. Was für ein altmodisches Wort? Versagen …
Doch: Das kann sich ändern. Jetzt den klitzekleinen Traum von: Ich springe über meinen Schatten leben. Wenn nicht jetzt wann dann?
Endlich den Typen von Gegenüber ansprechen, die Frau von nebenan, sich auf eine neue Stelle bewerben, der Freundin sagen, es ist vorbei. Den Traum: Ich springe über meinen Schatten leben. Sich mit dem doofen Bruder, der Schwester versöhnen, dem Vater, der Mutter. Sich versöhnlich zeigen, weil man sich endlich mit sich selbst versöhnt hat.
Ja, vielleicht geht es nicht um den ganz großen, romantischen Traum, um die weite Reise, das viele Geld, die große Liebe, den Traumjob. Vielleicht geht es um diesen klitzekleinen Traum, der vielleicht der größte ist, weil man ihn tatsächlich leben kann und weil er so viel bewirkt. Den Traum, über seinen eigenen Schatten zu springen. Was definitiv hilft, ist die Gewissheit, auch wenn wir es nicht schaffen, bleiben wir Geliebte Gottes.