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Kirche in WDR 3 | 03.10.2025 | 07:50 Uhr
Halbe Sätze – ganze Freiheit
Guten Morgen
„Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ - und mehr war nicht zu hören, ging unter im Jubel der Menschen. Welch ein Moment damals im Garten der Prager Botschaft der Bundesrepublik, wo über 5000 Menschen campierten, die nicht zurückwollten in die DDR, sondern ein anderes, freieres Leben anfangen. Am 30. September 1989, vor 36 Jahren, hat Hans-Dietrich Genscher, damals Außenminister der Bundesrepublik, auf dem Balkon der Botschaft diesen Satz gesagt. Es war noch nicht mal ein ganzer Satz. Sein Schluss ging unter in lauter Freude und Lust auf die Freiheit.
Manchmal sind halbe Sachen die Wichtigsten und Richtigsten, gerade weil sie unfertig sind und etwas offenlassen – oder aufmachen.
So ist es dann in Ostberlin am 9. November desselben Jahres: „Das tritt… Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ - stammelt Günter Schabowski hervor.
Man hat ihn vor die Presse geschickt. Er soll den Bürgern der DDR künftige Reiseerleichterungen ankündigen. Nur hat er die Vorbesprechung verpasst und weiß nicht genau, was zu antworten ist; auch nicht, dass er Reisefreiheit erstmal nur ankündigen soll, aber sie nicht schon in Kraft setzen. Der Rest ist Geschichte, ist Freude und Gänsehaut. Am selben Abend drücken die Leute angespornt von Schabowskis zwei gestammelten Wörtchen „sofort unverzüglich“, die Mauer in Richtung Westen ein.
Merkwürdig. Zwei der wichtigsten Sätze deutscher Nachkriegspolitik sind sprachlich ziemlich verkorkst. Holprig, unvollständig und dann aufs Beste ergänzt von der Lebensfreude und Freiheitsliebe der Leute.
„Der Mensch entwirft die Pläne im Herzen,“ – heiß es im biblischen Buch der Sprüche - „doch von Gott kommt die Antwort auf der Zunge.“ (Die Bibel, Sprüche Salomos 16,1)
Wenn das so ist, kann es eigentlich nichts Spannenderes, auch nichts Kostbareres geben als Sätze, die etwas wollen und zugleich offenlassen. Als Worte, die etwas wagen und doch damit rechnen, dass es überraschend anders kommt.
Die Sätze, die heute zum 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit gesagt werden, sind gewiss bis auf das kleinste Komma durchkomponiert. Getrimmt auf größtmögliche Wirkung, gepanzert gegen Missverstehen und bösen Willen.
Bloß, dass so die Sprache immer berechnender wird und berechenbarer, steriler und glatter, schriller und roher. Größter Krawall oder kleinstmögliche Angriffsfläche. Niederbrüllen oder Schweigen und nichts dazwischen?
Sprache hat mit Freiheit zu tun, mit Offenheit, auch mit Unberechenbarkeit. Ich bestimme ja nicht, was aus meinen Worten wird. Ich wage etwas und ich traue auch meinem Gegenüber etwas zu. Das braucht Mut und Demut.
Vor allem aber braucht es Vertrauen in die Würde und Freiheit der anderen, die im Zuhören liegt und darin, menschlich zu antworten.
Von ihrer Staatsmacht hatten die Menschen in der DDR das so nicht erfahren. Und gingen im
Herbst 89 doch in dem Vertrauen auf die Straße, dass Freiheit, Würde und Menschlichkeit möglich sind: Sie machten es vor, mit klaren Worten und aufrichtigen Rufen. Und sie machten‘s genau damit wahr.
(Ende WDR 4, Verabschiedung für WDR 3 und 5:)
Einen überraschenden Tag wünscht Ihnen
Ihr Jan-Dirk Döhling aus Schwerte.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze