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Kirche in WDR 2 | 07.08.2025 | 05:55 Uhr
Verfluchen?
Pitte kommt in die Dorfkneipe und schmeißt eine Runde für alle. Antonia folgt ihm eine Weile später, das Gewehr im Anschlag. „Steh auf“, sagt sie vor allen andern. Er schüttelt den Kopf. Sie schießt. Gekonnt daneben, gewollt so scheint es. Er steht auf, sie folgt ihm mit dem Gewehr in die Nacht. Sie halten an, sie sieht in an und sagt:
„Komm hier nie weder her. Denn mein Fluch wird dich zerbrechen, meine Kraft wird dich zermalmen. Mein Hass dich vernichten. Dir werden die Knochen brechen und die Zähne zersplittern. … (dann wird das Wasser, das du trinkst, dein Blut vergiften) Du wirst vergeblich darum flehen, dass dir diesen Qualen erspart bleiben, denn: Sie sind die Strafe für das Vergewaltigen eines Kindes.“
Antonia ist die Oma von dem kleinem Mädchen Therese, das Pitte für seine Vergewaltigung ausgesucht hat. Ihre Mutter Danielle hat ihn schon Jahre zuvor bei einer anderen Vergewaltigung ertappt, verletzt und gedemütigt.
Pittes Verhalten hat also Geschichte. Das ganze Dorf weiß Bescheid und nach der Verfluchung greift die Selbstjustiz, Pitte wird zusammengeschlagen und zuletzt von seinem eigenen Bruder ertränkt.
Brutal. Alles. Die Vergewaltigungen und das Verhalten des Dorfes. Realistisch, altbekannt in Teilen.
Was in dem Oskar prämierten Film „Antonias Welt“ von 1995 neu ist, ist der Fluch, den die stolze Dame und Bäuerin Antonia ausspricht.
Ich gestehe, manchmal wünsche ich mir, ich hätte auch den Mut dazu. Wie Antonia jemand zu verfluchen. Einfach als Mensch. Ich kenne Ohnmachtserfahrungen anderer Art. Auch als Frau der Kirche, in der es Menschen gibt, die anderen Gewalt antun – sexualisiert, systematisch oder vereinzelt.
Rache liegt mir wie Antonia fern, aber jemanden mit Worten und Kraft vertreiben zu wollen. Oh ja, dieses Gefühl kenne und gestatte ich mir von Zeit zu Zeit.
Allein: Ich tue es nicht. Mag sein, dass mir der Mut und die Übung fehlt, Menschen zu verfluchen. Ehrlicherweise fehlt mir aber noch etwas anderes: Der Auftrag dazu, das Recht und die Überzeugung.
Und: Die totale Verachtung. Ja, ich verachte so manche Taten. Ich habe auch kein Verständnis für Strukturen, die solch eklatantes Fehlverhalten sexualisierter Gewalt tolerieren oder vertuschen. Aber ich habe Achtung selbst vor den Menschen, die verachtenswerte Dinge tun. Ob bewusst oder unbewusst, ob aus Not, Prägung oder Sucht. Ich bin zutiefst dankbar, dass ich diese Achtung habe. Vor jedem Menschen. Vor der Würde aller. Sie gehört für mich zum Wesensmerkmal unserer Menschlichkeit. Für mich als Christin glaube ich, dass jeder Mensch auch Gott widerspiegelt, ein Ebenbild ist. Und deshalb mehr ist als die Summe seiner oder ihrer Worte und Taten.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius