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Das Geistliche Wort | 01.11.2025 | 08:40 Uhr
Allerheiligen
Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer! Heute ist ja Allerheiligen, ein Fest der katholischen Kirche, an dem eben alle Heiligen geehrt werden. Und was das mit dem Aachener Dom zu tun hat, davon will ich Ihnen erzählen. Ich bin Matthias Fritz und bin seit 11 Jahren Priester am Aachener Dom. Zu meinen Lieblingsaufgaben gehört es Menschen durch dieses wunderbare Gebäude zu führen. Jede Führung ist für mich immer wieder eine Entdeckungsreise. Ich darf Menschen von den vielen spannenden Dingen in und am Dom erzählen, die ich bereits selber entdeckt habe. Aber oft werde ich auch von Menschen mit ihren Entdeckungen überrascht und beschenkt.
Musik I: Ed Sheeran „Celestial“
Der Aachener Dom ist eigentlich ein Zentralbau, der auf Kaiser Karl den Großen zurückgeht und dessen Grundstein vor genau 1230 Jahren gelegt wurde. Um ihn herum wurden im Laufe der Zeit Kapellen angebaut. Aber das Kernstück ist für mich immer noch am beeindruckendsten, ein Achteck das sich nach außen zu einem 16-Eck hin erweitert. Ursprünglich gab es solche Zentralbauten schon in der Antike. Da ist vor allem das römische Pantheon zu nennen, das Kaiser Karl kannte, war er doch auch in Rom gewesen. Und damit bin ich bei der ersten Verbindung zwischen dem Aachener Dom und dem Allerheiligenfest. Denn das Fest hat mit diesem antiken Bau in Rom zu tun, der – wie der Name schon sagt – ein Allgöttertempel war. Kaiser Phokas schenkt im Jahr 609 Papst Bonifatius IV. dieses Gebäude. Und der weiht es Maria und allen Heiligen, woran das heutige Fest erinnert. Davon erzähle ich bei meinen Domführungen gerne, wenn wir mitten in dem Zentralraum stehen: Es scheint so, als ob wir plötzlich in einer anderen Welt sind. Die Wände in Marmor verkleidet und über den Köpfen die 30 Meter hohe Kuppel. Hier funkelt und strahlt ein riesiges Mosaik aus bunten und vor allem vergoldeten Steinchen. Mehr als 25 Millionen Mosaiksteine zeigen unter anderem Sterne, Pflanzen, Tiere und Menschen. Es ist wie ein Blick in den Himmel. Eine Besucherin sagte mir einmal, es fühle sich an, als würden sich hier Himmel und Erde berühren. Am Ende der Führung sagte sie dann, „Sie arbeiten an einem himmlischen Ort“. Ja, das kann ich nur bestätigen! Bei genauerer Betrachtung sitzt Jesus als König der Welt auf einem Thron in diesem Himmel. Und über ihm in der Mitte der Kuppel werden die vier Evangelisten dargestellt, als vier Symbole: einer als Mensch, einer als Löwe, einer als Stier und einer als Adler. Das Ganze erinnert an ein Fest an einem Königshof, denn außenherum stehen 24 Älteste in weißen Gewändern, die gerade ihre Kronen ablegen. Genau davon erzählt das letzte Buch des Neuen Testamentes, die Geheime Offenbarung (vgl. Offb 4,4). Außerdem stehen in einem weiteren Kreis darunter die 12 Apostel und Maria. Und dann ist da noch einer, der da eigentlich gar nicht hinpasst: Karl der Große. Der Bauherr des Doms hat sich hier unter den engeren Kreis der Apostel gestellt. Immerhin wird er hier in Aachen auch als Heiliger verehrt – auch wenn man das heute sehr kritisch sieht: Immerhin war er auch ein Krieger, der das Christentum mit dem Schwert erzwang. Aber frühere Generationen haben das mit der Verehrung aller Heiligen offenbar anders gesehen.
Musik II: Max Richter, "On the nature of daylight“
Der Blick unter die Kuppel des Aachener Doms. Ein Blick in den Himmel zu Christus und seinen Heiligen. Aber da ist noch etwas anders, was den Dom mit dem Allerheiligenfest verbindet. Denn um genau das alles sehen zu können, muss man von der Mitte des Raumes durch die Streben eines nahezu 900 Jahre alten Leuchters hindurchblicken. Es ist der sogenannte Barbarossaleuchter. Er war ein Geschenk eben jenes Kaisers Friedrich Barbarossas zu Ehren der Gottesmutter Maria. In früheren Jahrhunderten krönte er die Grabstätte von Karl dem Großen, den Barbarossa sehr verehrte als einer seiner Vorgänger im Kaiseramt. Der Leuchter ist so gefertigt, dass er einerseits, wie eine überdimensionale Krone aussieht. Andererseits stellt er eine mittelalterliche Stadt mit Türmen, Toren und Zinnen dar. Gemeint ist damit ein Bild für das Himmlische Jerusalem. Und auch davon erzählt die Bibel in der Geheimen Offenbarung und spricht von dem Ort, wo alle Heiligen einmal sein werden. Über die Jahre ist sein Material etwas matter geworden, aber er schimmert und scheint immer noch kraftvoll im Tageslicht im Dom. Was aber kaum noch zu erkennen ist, sind Tafeln, die als Bodenplatten die Unterseite unter den Türmen und Toren des Leuchters zieren. Von den insgesamt 16 Metallplatten zeigen acht Episoden aus dem Leben von Jesus und Maria. Die anderen acht sind wieder ein Brückenschlag zum Allerheiligenfest und deshalb finde ich sie besonders spannend. Sie zeigen jeweils einen Engel mit einem Spruchband. Und darauf stehen die sogenannten acht Seligpreisungen. Und die werden am heutigen Allerheilgenfest im Gottesdienst der katholischen Kirche vorgetragen.
Musik III: Taylor Swift feat. Kungs, „Anti-Hero“
Die acht Seligpreisungen am Aachener Barbarossaleuchter sind Texte aus dem Gottesdienst am heutigen Allerheiligenfest und stammen aus der sogenannten Bergpredigt Jesu. Man kann sie auch das „Grundgesetz“ Gottes für die Welt nennen, wie das ein Priester aus El Salvador vor gut 35 Jahren einmal getan hat, und zwar als das „Grundgesetz der Kirche der Armen“[1]. Die acht Seligpreisungen gehen so:
Selig sind die Armen im Geiste.
Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen.
Selig sind, die trauern, denn sie werden getröstet werden.
Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.
Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.
Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig sind, die Verfolgung erleiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen gehört das Himmelreich.[2]
Wenn ich das bewusst lese, dann ist das harter Tobak. Da spricht Jesus von benachteiligten Menschen, die die Freude am Leben verloren haben oder die ihnen von anderen genommen wurde. Jesus scheut sich nicht Ungerechtigkeit und Missstände in der Welt anzusprechen. Und das sollen dann also die Spielregeln Gottes für die Welt sein?, so frage ich mich. Ein Grundgesetz ist doch die Grundlage dafür, wie eine Gesellschaft gut geordnet sein kann und funktionieren soll. Und ehrlich gesagt: Da werden Menschen genannt, zu denen ich in der Regel nicht gehöre. Ich werde nicht verfolgt, materiell arm bin ich nicht und sanftmütig hat mich auch noch kein Mensch genannt. Bestenfalls versuche ich mal im Kleinen Frieden zu stiften und weiß um Trauer. Doch was Jesus hier tut, ist doch: Er stellt Menschen ins Rampenlicht, die benachteiligt werden. Sie bekommen eine gute Zukunft zugesprochen. Nichts anderes meint dieses kleine Wort „selig“, mit dem jeder Satz beginnt. Selig und glücklich sind die Benachteiligten, so könnten wir sagen. Ihnen gehört das Himmelreich. Und den Blick dorthin, der eröffnet sich ja durch den Leuchter hindurch in den Kreis der Heiligen, die an der Kuppel im Mosaik dargestellt werden. Für mich steckt hinter dieser Blickrichtung über Seligpreisungen am Leuchter zur Kuppel ein Konzept: Wenn ich diese acht Seligpreisungen verstehe, sie auf mich beziehen kann, dann habe ich einen Zugang zu diesem Himmel. Die Bodenplatten mit den acht Seligpreisungen sind so etwas wie das Fernglas, um eine Zukunft zu sehen. Sie setzen den Fokus neu: Denn eigentlich müssten da oben alle die Menschen stehen, die in den Seligpreisungen genannt werden. Das wären dann wirklich alle Heiligen! Aber dort sind sie nicht zu finden. Es fehlen die, die auch Zeit ihres Lebens übersehen oder unterdrückt wurden.
Musik IV: Imagine Dragons „Believer“
Der Text der Seligpreisungen enthält nicht nur einen Zuspruch für Menschen, die oft übersehen und unterdrückt werden. Der Text ist auch ein Anspruch, andere, notleidende Menschen eben nicht zu übersehen und schon gar nicht zu unterdrücken! Ich kann zum Beispiel schauen, dass ich Menschen zur Seite stehe, die Unterdrückung und Benachteiligung erfahren. Es liegt auch an mir, ob die Seligpreisungen nur schöne Worte der Vertröstung sind, oder ob sie dazu beitragen, die Welt besser zu machen, weil es einen Auftrag gibt. Wenn ich Jesus richtig verstehe, schließe ich mich seiner Botschaft an, wo ich zum Beispiel versuche Frieden zu stiften, wo ich um Gerechtigkeit kämpfe und anderen eine Stimme gebe oder wo ich Menschen in Trauer beistehe, tröste, zuhöre oder einfach nur bei ihnen bin. Genau darin sind mir alle Heiligen, die heute besonders verehrt werden, ein wichtiges Beispiel, ein Vorbild, denn sie haben gehandelt, wie es die Seligpreisungen vorstellen. Sie haben geholfen, dass Menschen sich wieder „selig“ fühlen können und etwas Glück im Leben wiederfinden oder einfach nur gelernt haben, der Botschaft Jesu von den Seligpreisungen zu vertrauen: Es gibt eine Zukunft und am Ende wird sie selig sein. Du hast dort oben im Bild vom Himmel und vom Himmlischen Jerusalem einen Platz. Ob du die Botschaft Jesu als Zuspruch erfährst oder ob du sie lebendig werden lässt in deinem Leben. Und darin war Jesus den Heiligen ein Vorbild und ist für mich sozusagen ein Prototyp. Er sieht das Leben der vielen Menschen. Jesus sieht die täglichen Nöte und Herausforderungen der Menschen und er lehrt: Verschließt nicht die Augen vor der Not. Setzt euch für die Menschen ein nach bester Kraft. Verändert diese Welt und befreit sie von Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Erzählt begeistert von einer guten Zukunft und sprecht den Menschen Trost zu: Trotz aller Benachteiligung seid ihr nicht vergessen. Das ist die soziale Kernbotschaft des Christentums, die auch heute noch gilt. Deswegen sitzt Jesus in der Mitte unter den Heiligen, die wir in der Kuppel des Aachener Doms sehen.
Musik V: Beyonce, „Halo“
Ich stehe gerne mitten im Aachener Dom genau unter der Kuppel und dem Barbarossaleuchter, denn hier eröffnet sich eine Perspektive weit über mein Leben hinaus, so wie es auch das heutige Fest Allerheiligen tut. Und es eröffnet eine entgegengesetzte Perspektive. Es ist der Blick auf und in mein Leben unter dem Maßstab der Seligpreisungen: Lebe ich diese Botschaft, wenn ich mit anderen Menschen umgehe? Bin ich sozusagen auf der Spur der Heiligkeit, die Jesus und Gott hier vorgeben? Folge ich Gottes Perspektive für eine gute und gerechtere, eine trostvollere, eine sanftmütigere Welt? Eine der Seligpreisungen hat mich übrigens sehr geprägt und lässt mich sehr einfühlsam sein. Als ich meine Großmutter verloren habe, habe ich lange getrauert, um den Verlust zu verarbeiten. Ich habe mich damals elend gefühlt, aber heute weiß ich, was es bedeutet jemanden, der einem nahestand, zu verlieren. Und das hat mich befähigt, anderen in ähnlichen Situationen beizustehen, sie zu trösten. Und das ist beseligend: Anderen Trost zu spenden, weil es mich selbst tröstet. Das ist mittlerweile etwas Wichtiges geworden in meinem Alltag als Christ und eben auch als Priester. Trauer ist für mich kein Gefühl mehr, dass mein Leben belastet oder einfärbt. Ich kann sogar mit anderen Menschen entdecken, wie sie trauernden Menschen beistehen. Und noch etwas aus meiner Erfahrung im Aachener Dom: Wenn ich in der Mitte des Zentralbaus stehe, dann bin ich ja mitten unter all den Menschen, die ich da durchführe und als Gast oder Gottesdienstbesuchende erlebe. Und: Das sind alles Menschen, die vielleicht Heilige sind, vielleicht aber auch Selig-Gesprochene. Wer weiß? Welche Trauer, welche Angst und welche Sorgen sie mit sich herumtragen. Egal wo ich täglich bin, ich sehe garantiert Menschen, denen Jesus in der Bergpredigt einen Zuspruch oder einen Auftrag gibt. Ich muss also den Blick von der Kuppel und der schönen Gestaltung der Kirche lösen und um mich herum in die Runde der Menschen schauen. Eigentlich muss ich unseren schönen Dom in Aachen wieder verlassen, um die Botschaft, die ich hier entdecken darf, erst richtig konkret werden zu lassen. Dann kann ich vielleicht ja sogar derjenige sein, der auf sie aufmerksam wird, um sie zu trösten und sie zu stärken? Oder ich sehe garantiert auch Menschen, die diese Botschaft leben und verstanden haben. Immerhin: das, was ich selbst erfahren habe, macht mich sensibler für das, was um mich herum geschieht. Und das wäre ja ein Schritt, um selig zu werden.
Aus Aachen grüßt Sie Matthias Fritz
Musik VI: Rea Garvey, „Halo“
[1] Ignacio Ellacuría, Die Seligpreisungen als Grundgesetz der Kirche der Armen, in: Giancarlo Collet (Hg.), Der Christus der Armen. Das Christuszeugnis der lateinamerikanischen Befreiungstheologen, Freiburg im Breisgau, Basel, Berlin 1988.
[2] Zitiert nach: https://www.inschriften.net/aachen-dom/inschrift/nr/di031-0028.html?tx_hisodat_sources%5Baction%5D=show&tx_hisodat_sources%5Bcontroller%5D=Sources&cHash=5afc84aee08d5918cf55d09b2caf0dae .
