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Kirche in WDR 2 | 05.11.2025 | 05:55 Uhr
Mittragen
„Mama, ich möchte nicht mehr so sein!“ Das ist ein Satz, ein Gedanke von einem achtjährigen Jungen, den ich hier mal Felix nenne. „Ich möchte nicht mehr so sein!“ Immer wieder sagt Felix das zu seiner Mama. Die ist eine alte Freundin von mir. Wir sehen uns nur noch sehr selten. Vor Wochen hatten wir endlich Zeit zum quatschen. Und da hat sie mir erzählt, dass bei ihnen fast jeder Tag mit Stress anfängt und endet, mit Diskussionen und Tränen. Felix will nicht in die Schule: „Ich bin doch sowieso dumm!“ sagt er dann und versteckt sein Gesicht im Kissen. Und auch: „Keiner mag mich da!“ Ich staune. Das letzte Mal, dass ich Felix gesehen habe, ist so gute zwei Jahre her. Wenn ich an ihn denke, sehe ich einen Jungen vor mir, der sehr lebhaft ist und mindestens genauso clever. Den Felix, den ich kenne, der platzt vor Vorfreude, wenn er sich etwas Gutes überlegt hat – eine Geschichte, ein Spiel: Jede Idee muss raus, sofort. Und mir fällt ein, dass Felix sich immer wieder auch zurückzieht: Kopfhörer auf, Buch hören, mit Papa kuscheln. Ja, Felix ist mir mit seinem Verhalten schon damals aufgefallen. Er war wilder, lauter, empfindsamer als viele andere Kinder. Aber wie kommt dieser aufgeweckte kleine Junge auf die Idee, dass er dumm sei? Dass ihn niemand mag und er sowieso lieber ganz und gar anders wäre, als er ist?
Seine Mutter erzählt mir: Bei Felix wurde nach vielen Therapien, Gesprächen und Untersuchungen ADHS diagnostiziert. Etwa 2 bis 8 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben diese Diagnose. Und auch Erwachsene sind betroffen. Für Felix heißt das: Konzentrieren funktioniert bei ihm anders als bei den meisten. Mal reicht seine Aufmerksamkeit für etwas nur ganz kurz, oft kann er sich gar nicht konzentrieren, weil er den Drang hat, sich unbedingt zu bewegen. Und dann vertieft Felix sich manchmal so sehr in etwas, dass er nichts anderes mehr mitbekommt, was um ihn passiert. Für Felix ist es auch schwer, seine Impulse zu kontrollieren. Immer wieder schreit er andere übel an und beschimpft sie, wenn er etwas ungerecht findet. Manchmal schlägt er auch. Nachher tut das Felix wirklich leid. Und dann platzt es später unter Tränen und aus tiefstem Herzen aus ihm heraus: „Ich möchte nicht mehr so sein!“. Felix und seine Eltern tun echt alles, was sie können. Und trotz professioneller Therapien ist für die ganze Familie inzwischen klar: Das bleibt ein anstrengender Weg. Für Felix und für alle, die mit Felix leben. In der Familie, in der Klasse, in der Nachbarschaft. Konkret heißt das: Felix wird nicht zum Kindergeburtstag eingeladen, Verabredungen zum Spielen sind rar. Seine Mutter sagt: „Ich verstehe das. Aber für uns bleibt das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen.“ Sich nicht willkommen und zugehörig fühlen – das ist Höchststrafe. Und die ist echt unfair, wenn man unschuldig ist. Und deshalb frage ich mich: Wie kann das gelingen, dass Familien wie die von Felix auf mehr Verständnis treffen? Mitfühlen und Mittragen könnten vielleicht helfen. Mitfühlen heißt hier: Anerkennen, dass andere Menschen andere Herausforderungen meistern müssen. Solche, die ich vielleicht nicht nachvollziehen kann. Und „Mittragen“ könnte heißen: Auch wenn Dein Verhalten, dein So-Sein mich echt fordert, gehörst Du dazu. Ich achte meine Grenzen. Aber ich grenze Dich nicht aus.
