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Das Geistliche Wort | 09.11.2025 | 08:40 Uhr
Kleine und große Rituale
Es ist kurz nach halb 8 morgens und ziemlich frisch. Ich steige in mein Auto und mache das Radio an. Erste Sonnenstrahlen, weite Landschaft. Mein Ziel: ein Bildungshaus in der hessischen Rhön – nicht weit von der thüringischen Grenze.
So begann mein Tag vor 10 Jahren als ich in der Schülerseelsorge gearbeitet habe. Etwa eine halbe Stunde dauerte die Fahrt. Fünf Jahre lang bin ich diesen Weg morgens und abends gefahren. Es waren richtig lange Tage – wie das eben ist mit Neuntklässlern auf Klassenfahrt.
Und die halbe Stunde im Auto, die gehörte mir allein. Morgens stieg ich ein: innerlich bereit machen für alles, was der Tag bringt. // Abends stieg ich aus: loslassen, was war. Mein Weg. Mein Auto. Meine Musik. Mein Ritual. // Einsteigen – Austeigen. Eine kleine Sache – aber für mich ein wichtiges Ritual. Vielleicht sogar ein heiliger Moment.
Ich bin Bernadette Wahl, Theologin – inzwischen in Essen. Und mit meinem Team im Bistum Essen gründe ich gerade eine Ritual-Agentur. Guten Morgen.
Musik I: Norah Jones, Those sweet words
Was unterscheidet Rituale eigentlich von Routinen? Die erste Tasse Kaffee am Morgen könnte ja irgendwie beides sein: Ein Ritual, um ruhig und gefasst in den Tag zu starten oder eine einfache Routine ohne große Bedeutung und Emotion. Etwas, was man eben immer so macht. Vielleicht wie das Abziehen der Glasscheibe nach dem Duschen – damit sich keine Kalkablagerungen sammeln. Das würde ich in der Regel nicht als Ritual verstehen.
Ein Ritual – so wie ich es hier benutze – ist eben keins, das ausschließlich von der regelmäßigen Wiederholung lebt. Es stellt große Veränderungen im Leben eines Menschen in den Mittelpunkt. Das Ritual gibt dem, was Innen passiert, eine Form. Der französische Ethnologe Arnold van Gennep spricht dabei von „Rites de passage“, so genannte „Übergangsriten“. Diese markieren wichtige Lebensphasen wie Geburt, Pubertät, Heirat oder Tod. Sie strukturieren den Übergang von einer sozialen Rolle oder Lebensstufe in eine andere und geben Orientierung und Zusammenhalt. Interessant ist, dass jedes Ritual drei Schritte besitzt: „Davor“ – „Dazwischen“ – und „Danach“.
Meine Autofahrt am Morgen und am Abend drehte sich ehrlicherweise nicht um eine so große Veränderung, wie die, die van Gennep meinte. Daher nenne ich sie besser: „Mikro-Ritual“. Aber die drei Schritte, die hatte meine Autofahrt auch: Vor der Fahrt bin ich einfach Bernadette. Vielleicht morgens noch ein bisschen verschlafen – aber auf jeden Fall im Modus „privat“. Vielleicht checke ich eben noch meine Nachrichten auf Whatsapp oder trinke still meinen Kaffee. Im Zwischen sitze ich im Auto und fahre meine übliche Strecke zur Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern. Und im „Danach“ steige ich aus als „Frau Wahl“. Ich muss mich beschäftigen mit Streitigkeiten um die Zimmerwahl oder mit schlimmem Liebeskummer und auch um den spirituellen Impuls für Jugendliche in der Kapelle. Auf der Rückfahrt das gleiche Spiel – nur umgekehrt, denn zuhause bin ich wieder Bernadette.
Wenn schon Mikro-Rituale im Alltag so viel bewirken können – wie viel wichtiger sind Rituale dann bei den ganz großen Veränderungen im Leben: Wenn ich krank werde oder wieder gesund. Wenn ich mich verliebe. Oder wenn ich einen lieben Menschen verliere.
Musik II: Jacob Collier feat. Maro, Lua/Diesse
Ich finde es wichtig, Veränderungen nicht zu überspringen und Übergänge bewusst zu gestalten. Nach der schmerzhaften Trennung von ihrem langjährigen Partner wirkt eine Freundin von mir recht orientierungslos. Nachvollziehbar finde ich. Es ist schon ein ziemlicher Unterschied, ob ich mein Leben alleine plane - oder zu zweit. Wo gehöre ich hin? Mit wem fahre ich denn jetzt in den Urlaub? Wer bin ich eigentlich ohne den anderen? Wie soll das mit dem Kinderwunsch Ende 30 weitergehen? Und: Waren die letzten Jahre und die harte Arbeit an der Beziehung eine Fehlinvestition?
Bei einem Kaffee kommen wir zusammen auf die Idee: Meine Freundin sehnt sich nach einem Abschiedsritual. Kurz danach hat sie eine ganze Kiste voller Erinnerungen zusammengestellt. Es ist ihr wichtig, neben all den gerade so offensichtlichen Konflikten auch die vielen schönen Dinge in der Beziehung zu würdigen. Das hilft meiner Freundin enorm dabei, die letzten Jahre nicht als „Fehler“, sondern als wertvollen Teil ihrer Geschichte anzunehmen. Dieses Ritual hilft auch dabei, diesen Lebensabschnitt endgültig zu beenden und besser in das nächste Kapitel des Lebens starten zu können. Ich weiß: Manche möchten solche Lebensschritte lieber mit sich selbst ausmachen. Andere haben Freundeskreise, die dabei helfen. Wer es wünscht, kann sich aber auch professionell dabei begleiten lassen.
Dafür sind in der evangelischen Kirche in den letzten Jahren unter anderem in Hamburg, Köln, Stuttgart und Hannover innovative Projekte gegründet worden – sie nennen sich „Ritualagenturen“. Der Service solcher Agenturen: Seelsorgerinnen und Seelsorger gestalten mit Ihnen und für Sie Rituale – passend zu ihrem Leben. Hier in Essen gibt es auch eine Ritualagentur. Sie heißt „Segen45“ und veranstaltet bunte Tauffeste, Pop-up-Hochzeiten und individuellere Segensfeiern. Ab dem kommenden Jahr ergänzen wir von der katholischen Kirche in Essen das Angebot. Die neue Agentur von mir und meinem Team wird sich dann den so wichtigen, aber leider oft wenig beachteten Umbrüchen des Lebens, widmen:
-v
vor oder
nach einem Umzug, zum Jobwechsel
oder dem Einstieg in die Rente, wenn
die mittlerweile erwachsenen Kinder ausziehen, zu
einem Ehejubiläum, zum
Segen vor Abschlussprüfungen, nach
einer Fehlgeburt,zum
bestandenen Führerschei, usw.
-A
Abschied, Neuanfang, Dankbarkeit, Trost – all das braucht
manchmal einen Rahmen. Das kann eine kleine Feier im Schrebergarten sein. Ein
Abschied am See. Eine Willkommensfeier im Wohnzimmer. Ein Reisesegen am
Bahnhof. Mit dem richtigen Lied. Mit Stille. Mit einem Segen oder einem Text. -
Es sind die kleinen Dinge, die einen großen Unterschied machen können.
Musik III: James Taylor, You’ve got a Friend
Manche Veränderungen sind so groß und bedeutsam, dass es wichtig ist, sie immer wieder zu erinnern. Kein anderes Datum in der deutschen Geschichte ist mit so vielen zentralen Ereignissen verbunden wie heute, dem 9. November. Direkt fallen mir die Reichspogromnacht 1938 und der Mauerfall 1989 ein.
Ich bin in Fulda geboren – und damit ziemlich nah an der innerdeutschen Grenze und Point Alpha. Das war der US-Beobachtungsposten an der innerdeutschen Grenze, mitten im sogenannten „Fulda Gap“ während des Kalten Krieges. Es war einer der gefährlichsten Orte der Welt. Denn hier standen sich NATO und Warschauer Pakt nur wenige Hundert Meter voneinander gegenüber. Point Alpha steht heute als Mahnmal und Gedenkstätte für Teilung und deren Überwindung. Ich war genau 8 Monate alt als diese innerdeutsche und streng bewachte Grenze aufgehoben wurde.
Immer, wenn ich dort bin, erinnere mich daran, dass meine Großeltern ihre Freunde aus dem Osten, die nicht mal eine Stunde entfernt wohnten, lange Zeit nicht sehen konnten. Dieser Ort trägt eine ganz eigene Spannung in sich – zwischen Trennung und Einheit, zwischen Grausamkeit und Frieden, zwischen Vergangenheit und dem, was wir heute daraus gemacht haben. Das Gedenken jedes Jahr, das Gehen entlang der alten Grenzanlagen, die Geschichten, die man sich erzählt – das ist auch zu einem Ritual geworden. Ein Moment, um kurz stehen zu bleiben und nachzuspüren, was damals war und was heute selbstverständlich ist. Vielleicht fühle ich mich der deutschen Einheit auch deshalb besonders verbunden – gerade heute am 9. November.
Für die Reichspogromnacht habe ich einige Jahre gebraucht, um für mich persönlich einen Zugang zu finden. Geholfen hat mir dabei die „Stolperstein-Aktion“ von Gunter Demnig. Seit den 1990er-Jahren werden kleine Messingplatten in Gehwege eingelassen vor den letzten Wohnorten von Opfern des Nationalsozialismus. Darauf stehen jeweils Name, Geburtsjahr und das jeweilige Schicksal. Jedes Jahr am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, werden viele dieser Steine geputzt. Was für ein Zeichen! Stehenbleiben, Innehalten, runter Bücken, hinknien und mit den eigenen Händen saubermachen. Klar, nimmt man die Stolpersteine danach nochmal ganz anders wahr. Es ist für mich ein so stimmiges Ritual des Erinnerns. Es macht die ernste Geschichte im Alltag sichtbar und erinnert daran, dass hinter jedem Namen ein Mensch und ein Schicksal steht. Es sagt: Wir vergessen nicht. Es geht um Menschenwürde, Demokratie und Solidarität.
Heute am 9. November haben wir in Deutschland einige Gelegenheiten, solche „Makro-Rituale“ wahrzunehmen: Landesweit finden Gedenkveranstaltungen statt für die Opfer der antisemitischen Gewalt von 1938. Dazu gehören Kranzniederlegungen, Gedenkminuten, öffentliche Lesungen der Namen von Opfern und Führungen zu Stolpersteinen oder ehemaligen Synagogen. Und der Mauerfall von 1989 wird zum Beispiel in Berlin mit Lichteraktionen, öffentlichen Feiern oder Gedenkveranstaltungen bedacht.
Musik IV: David Orlowsky Trio, Insomnia
Studien zeigen: Rituale senken Stress, geben Sicherheit und Orientierung. Sie stärken den Zusammenhalt in Gruppen, machen uns selbstwirksamer und helfen, eigene Gefühle zu ordnen, gerade wenn es im Leben mal chaotisch zugeht. Ein Segensritual kann im besten Fall Ängste lindern, Trost spenden oder einfach Hoffnung schenken.
Ich glaube ja: Gott gefällt es, wenn Rituale uns helfen, zu uns selbst zu kommen. Neu zu spüren oder sich nochmal genau zu erinnern: Der Punkt im Leben, an dem ich jetzt gerade bin, der ist wertvoll. In aller Unvollkommenheit. Rituale sind wie kleine Feiern der Höhen und Tiefen Lebens. Sie können daran erinnern, dass Gott das Leben liebt – und dass unser Leben gefüllt ist, mit Gutem, mit Trauer, mit Sinn. Mit Momenten, die zählen. Sie hören raus: Ich bin ein Fan von Ritualen.
Und das Schönste ist: Jede und jeder kann Rituale selbst gestalten. Darin liegt eine besondere Kraft. Wer sein Ritual selbst entwirft, erlebt so etwas wie einen „IKEA-Effekt“. Man steckt selbst Zeit, Kraft, Gedanken und Gefühle hinein – und genau das verstärkt die Wirkung: Sicherheit, Trost, Hoffnung. Rituale sind also nicht nur etwas, das andere für uns tun. Wir dürfen sie uns selbst schenken.
Musik V: Aretha Franklin, Say a little prayer
Rituale verändern Wirklichkeit. Sie haben immer ein Davor, ein Dazwischen und ein Danach. Sie machen Dinge sichtbar, innen wie außen. Manchmal steckt das in einem Symbol, einer kleinen Handlung, einer Geste. Kein Wunder also, dass sich Frauen nach einer Trennung die Haare schneiden oder Männer sich plötzlich einen Bart stehen lassen. Von außen sieht das vielleicht nach einer Kleinigkeit aus – für die, die es tun, ist es aber ein klares Zeichen: Das Alte ist vorbei, jetzt fängt was Neues an.
Noch deutlicher wird das zum Beispiel, wenn mit der Hochzeit bei manchen der Nachname geändert wird. Innen hat sich längst etwas bewegt – und durch das Ritual wird’s auch noch außen sichtbar. Dieses Zusammenspiel von innen und außen ist oft genau das, was uns hilft, wieder bei uns selbst anzukommen.
Und wenn Sie jetzt merken: Da tut sich gerade was in mir oder etwas, das sich früher richtig angefühlt hat, fühlt sich jetzt aber irgendwie anders an, dann machen Sie nicht einfach weiter. Das sind oft die Momente, in denen sich innerlich was verschiebt – manchmal leise, manchmal deutlich. Dann lohnt es sich, kurz innezuhalten. Vielleicht mit dem richtigen Lied im Auto, einem Feierabendbier, einem Segen, einem neuen Haarschnitt oder einem Gespräch mit jemandem, der wirklich zuhört. Und wer weiß – vielleicht entsteht daraus ja Ihr ganz eigenes Ritual.
Viele Grüße aus Essen Bernadette Wahl
Musik V: Samuel Harfst, Alles Gute zum Alltag
