Beiträge auf: wdr3
Kirche in WDR 3 | 03.12.2025 | 07:50 Uhr
Flanieren
Jetzt ist schon wieder Mittwoch und ich bin mittendrin in einer gewöhnlichen Woche. Tja und es ist auch schon Advent. Jene Zeit, in der viele unterwegs sind, nicht nur auf Weihnachtsmärkten. Vor ein paar Wochen war ich unterwegs zu Straßenexerzitien in Hamburg. Das ist eine spirituelle Auszeit – und wie der Name schon sagt: nicht in einem stillen Kloster, sondern mitten auf der Straße. Es geht darum aufmerksam zu sein, wo im Alltag mir Gott überall entgegenkommt, mir begegnen will. Vielleicht macht eine Entdeckung auf der Straße gleich deutlich, wie das gehen kann. Ich lief in meinen Straßenexerzitien durch eine Passage in der Hamburger Innenstadt. Da las ich plötzlich auf der Mauer zwischen Fenstern –Schritt für Schritt und Wort für Wort - den Satz: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße.“ Die Aussage stammt von dem Schriftsteller Franz Hessel. Es ist der Impuls, langsam und bewusst zu gehen. Eben zu flanieren, um mehr zu sehen und auch gesehen zu werden. Ich bin also entschleunigt unterwegs, um auch die kleinen Dinge der Straße zu sehen.
Oder wie Franz Hessel es ausdrückt: Die Straße wie eine Lektüre in sich aufzunehmen, zu lesen. Dass ich diesen Satz allein schon entdeckt habe, ist ein Beispiel, welche Wahrheit und welche Weisheit auf der Straße darauf wartet, gefunden zu werden.
Das müssen jetzt nicht immer nur hochtrabende literarische Zitate sein, die kunstvoll irgendwo arrangiert worden sind. In meinen Straßenexerzitien fanden mich genauso Graffitis und Schmierereien, Aufkleber oder Werbesprüche, die mich einfach nur ins Hier und Jetzt holten: Wie gleich schon am Anfang als ich aus dem Bahnhof herauskam und auf einem Bauzaun las: „We are here. We are open.“ Für mich war das wie eine Überschrift über die Tage, wie eine Aussage Gottes. Ich bin hier und offen für Begegnung. Anscheinend kann Gott dafür auch schon mal Werbeplakate an Bauzäunen nutzen. Vor einer Kirche lief ich dann plötzlich auf das große Wort LIEBE zu. In Regenbogenfarben stand das Wort aufrecht und groß vor dem Haupteingang. Ich fand aber nicht nur das Wort Liebe. Ich habe Liebe an diesem Ort auch spüren dürfen. Denn es gab dort „Essen für alle“ Ein warmes Mittagessen für alle in der Kirche. Jede und jeder ist willkommen. Für alle Bedürftigen. Und niemand fragt, wie bedürftig du bist, oder warum du bedürftig bist. Ich wurde an der Tür freundlich empfangen und dann zu meinem Platze an einem Tisch geführt. Dort wurde ich gefragt, was ich denn möchte, zu essen, zu trinken. Ich durfte frei wählen und wurde bedient mit einer einfachen Suppe, die für mich nicht nur nach Liebe schmeckte, sondern mich wirklich in meiner Bedürftigkeit tief gesättigt hat. Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen. Das habe ich hier gespürt. Das ist für mich noch einmal zu einer ganz wesentlichen Erfahrung geworden, mitten auf den Straßen Hamburgs.
Dafür kann eine Reise für eine Auszeit in eine fremde Stadt helfen. Das geht aber auch überall, gerade da wo ich wohne: „We are here. We are open.“ Es gilt als Zusage überall. Probieren Sie es doch im Advent selber aus und flanieren Sie eine gewisse Zeit durch ihre Straßen – nicht nur über Weihnachtsmärkte.
Einen guten Advent auf der Straße wünscht Ihnen Stefan Wiesel aus Essen.
