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Kirche in WDR 3 | 06.12.2025 | 07:50 Uhr
Sammy - und die Engelserfahrung
Am Morgen, wenn der Tag noch nicht entschieden ist, da schießen einem manchmal merkwürdige Dinge durch den Kopf — ein Gedanke oder das Gefühl: Mensch, was mach’ ich eigentlich gerad hier? Von einer Art Kanzel im Radio aus … — am frühen Morgen fromme Sprüche von Gott?
Genau das möchte ich nicht. Ich weiß nicht mehr als Sie, vielleicht weiß ich anderes. Ich wundere mich zum Beispiel über den Zustand, die spirituelle Dürftigkeit des ganzen organisierten Kirchenbetriebs, für den ich als kirchlicher Sprecher ja irgendwie mit verantwortlich bin. Das Heilige, das Berührende, für das Gott oder eine Religion doch stehen — wo ist all das hin? Die heilige Energie, für die man früher Fahnen schwenken …, ja, die Berge versetzen konnte.
Die Kirche verliert sich in allerlei Dienstleistungen — „alles nicht schlecht!“ — , aber wo erreicht sie mich wirklich … über das Gut-Gemeinte und Salbungsvolle hinaus? Wo geht ihre Botschaft mir zu Herzen, eröffnet sie mir einen neuen Blick … für Wesentliches, für Überhörtes und Übersehenes? Wo einem die Augen aufgehen …
Ich muss an eine Geschichte denken, die der frühere Aachener Theologe Georg Baudler erzählt hat. Da geht es um einen Richter in einem englischen Gerichtshof. Und um einen Angeklagten. Beide stehen sich im Gerichtssaal gegenüber. Der Richter – man kann sich das so richtig vorstellen — in dunkler Robe, mit gepuderter Perücke und durchdringendem Blick — wie das früher so war. Die Verhandlung geht ihren Gang, bis auf einmal der Richter Brown erkennt – irgendwie fällt es ihm ein, es kommt von irgendwoher, es lässt sich nicht nachweisen oder mit Fakten belegen, blitzartig leuchtet es ihm auf: Der Angeklagte, der da vor ihm steht, das ist ja Sammy, mein früherer Freund, mit dem ich im Studium zusammen war. Durch diesen Einfall, durch diese Erkenntnis ändert sich die gesamte Situation. Auf einmal fühlt sich der Richter in seiner Robe und mit seiner Perücke unwohl. Ja, am liebsten würde er seinen alten Freund direkt umarmen. Es ist irgendwie eine neue Dimension im Spiel, eine andere Energie als vorher. — So, genau so, fühlt sich Nähe an. Und genau das wünsche ich mir manchmal in der Kirche: so einen Moment, in dem ich plötzlich merke, da sieht mich jemand wirklich. Das, was die Person da sagt oder mir zeigt, das hat direkt etwas mit mir zu tun. Und ist was Anderes als bei meinem Arzt, meiner Ärztin oder in meiner Apotheke.
Eine „Engelserfahrung“ hat der Aachener Theologe Baudler die Erfahrung des Richters genannt. In dem Moment, wo er merkt, das ist ja Sammy, da tritt etwas Persönliches in den Raum, da herrscht eine andere Atmosphäre. Objektiv hat sich im Raum nichts verändert. Aber der Angeklagte, der beim Diebstahl ertappt und bislang nur ein Fall XY war —, der ist plötzlich eine Person; sie hat ein Gesicht, das zu ihm spricht.
Es sind Momente wie dieser, in denen Gott – so glaube ich – menschliche Gestalt annimmt: in dir und auch in mir. Es sind Augenblicke in Gottes Angesicht. — Und die wünsche ich Ihnen und mir, gerade jetzt im Advent.
Ludger Verst aus Köln
