Ganz anders als ich denke

Ich betrete das Zimmer und bin vorbereitet, schon öfter habe ich sie während meines Praktikums im Altenheim besucht. Ihr Mann ist gestorben, jetzt komme ich wieder zu ihr. Mein buntes Hemd habe ich vorher ausgezogen und etwas Dunkles angezogen. Lange waren sie verheiratet, fast 40 Jahre. Das muss ganz schrecklich sein, wenn man seinen Lebenspartner verliert, denke ich. Sie bittet mich, Platz zu nehmen. Es ist still, ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll.

Nach einer Zeit fängt die alte Frau an zu erzählen: „Wissen Sie, ich möchte Ihnen nichts vormachen. Ich bin sehr, sehr glücklich. Ich bin froh, dass mein Mann tot ist. Ich habe darauf schon lange gewartet.“ Sie strahlt mich an. „Ich hoffe, Sie haben jetzt keine schlechte Meinung über mich, aber so ist die Wahrheit. Mein Mann und ich wir haben uns nicht mehr verstanden, es ist eine Erlösung für uns beide.“

Auf dem Nachhauseweg komme ich ins Nachdenken: Ich habe so viele vorgefertigte Meinungen. Wer sagt eigentlich, dass eine Witwe traurig sein muss, oder dass jemand, der Arbeit hat, froh sein muss, dass jemand, der gesund ist, dankbar ist oder ein Reicher glücklich? Seit dieser Begegnung mit der alten Frau bin ich vorsichtiger geworden, es ist nicht immer so, wie ich es denke. Ich ziehe mein buntes Hemd wieder an, ja, das Leben ist bunt und vielfältig, alles ist möglich und das ist gut so.

Sprecher: Daniel Schneider