Leonie fährt Zug

Leonie fährt Zug. Sie sitzt in einem Sechserabteil. Zusammen mit ihr ist da noch eine andere Frau, die sie aber nicht kennt. Und die beiden finden eine für sie gut passende Weise, miteinander zu reden oder sich einfach in Ruhe zu lassen.

Und als es dunkel wird, sind beide mit dem Licht der Leselampen über ihren Sitzen ganz zufrieden. Sie hatten da einfach so ihr … Nest.

Irgendwann kommt ein Mann ins Abteil und mit dem Spruch

„Macht euch doch hier mal das Licht an, es ist doch viel zu dunkel für euch!“

macht er das große Licht an und zerlegt so mit einem Handumdrehen das, was für die beiden bislang ihr „Wohlfühlnest“ war.

Dieser Moment war für Leonie gleichermaßen doof wie erhellend.

Leonie arbeitet nämlich in der Entwicklungshilfe und bereitet sich gerade auf ihren Einsatz in Burkina Faso vor.

Und dieser Mann war mal wieder ein Beispiel dafür, wie unsensibel und empathielos man so sein kann. Anstatt zu fragen, was die anderen vielleicht brauchen, weiß ich schon viel besser als die anderen, was gut für sie ist.

Gerade für die Entwicklungshilfe – und eigentlich heißt sie Entwicklungszusammenarbeit! – ist genau das ein absolut wichtiges Thema.

Erstmal die Perspektive des anderen einnehmen und nicht so wie früher wie eine Dampfwalze in fremde Kulturen einbrechen und ohne überhaupt zu fragen, was die anderen wirklich brauchen, alles platt machen, was nicht in mein eigenes Weltbild passt.

Auch wenn ich jetzt nicht in der Entwicklungshilfe arbeite – dieser grundsätzliche Gedanke ist genauso simpel, wie sinnvoll:

Bevor ich meine Antworten gebe, besser erstmal fragen, welche Fragen der andere überhaupt hat.

Michael Thiedig, Dortmund