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Kirche in 1Live | 02.09.2022 | floatend Uhr
Es ist dringend
Ich sitze im Garten und weiß nicht, ob ich mich über meine Nachbarn ärgern oder ihnen dankbar sein soll. Dabei tun die eigentlich gar nichts Besonderes. Sie haben Freunde zum Grillen da und weil uns nur eine dünne Sichtschutzwand trennt, höre ich alles, worüber die reden. Wie der letzte Urlaub war, wer befördert worden ist und welches Auto sie als Nächstes kaufen wollen. Normales Zeug über das normale Leute eben so reden. Ich könnte versuchen, einfach wegzuhören, aber das geht nicht. Ich bin hin- und hergerissen. Ich bin zuerst mal wütend. Da sitzen wir hier und haben die größte Dürre in Europa seit 500 Jahren, die Wälder brennen und die Flüsse trocknen aus, wir haben so den ersten echten Vorgeschmack, was uns noch bevorsteht – dann ist übrigens auch immer noch Krieg in Europa – und im Garten nebenan ist nichts davon auch nur ansatzweise Thema. Alle machen weiter wie bisher. Sind die verrückt geworden?
Aber das ist noch was: Ein Teil von mir ist auch erleichtert über so viel Normalität, weil ich in den letzten Wochen gemerkt habe, dass mich die Angst vor der Zukunft auch richtig lähmen kann. Und das hilft eben auch nicht wirklich weiter. Da tut es mir auch irgendwie gut, zu hören, dass nebenan ein ganz normaler Grillabend läuft.
Wahrscheinlich ist das für die Zukunft genau die Herausforderung: Ich will mich total entschieden dafür einsetzen, dass die Welt ein besserer Ort wird und wo ich selber nichts tun kann, will ich das, was schrecklich ist, wenigstens nicht ignorieren. Aber ich muss auch selber manchmal so ganz normale Abende haben und mir nicht den Kopf über all die Krisen zerbrechen. Damit ich auch Kraft hab, um wirklich was zu tun, wo ich kann. Vielleicht lad ich meine Nachbarn einfach Mal zu so einem Abend ein.
Christian Schröder, Aachen