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Hörmal | 29.11.2015 | 07:45 Uhr
Rupert Neudeck - Radikal leben
Autorin: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, dieser Satz hat sich schnell einen Platz unter den beliebtesten deutschen Zitaten erobert. Kein Wunder in einem Land, das Pünktlichkeit und Präzision so schätzt. Rupert Neudeck jedoch, Kölner Journalist und langjähriger, streitbarer Friedensaktivist, zitiert den Satz mit Vorliebe anders herum: „Wer zu spät kommt, den belohnt (!) das Leben.“ Neudeck, heute 76, überlebte als Fünfjähriger auf der Flucht von Danzig in den Westen. Und das nur, weil seine Familie 1945 das vermeintlich rettende Schiff verpasste, die Wilhelm Gustloff ....
O-Ton: „... dass wir zu spät kamen für die Gustloff, die dann torpediert wurde, Stunden später nach dem Auslaufen, und bis auf 500 sind alle 6500 in den Fluten der Ostsee ertrunken und erfroren, das bedeutet alles ganz viel. Ich glaube, Kindheitserinnerungen kann man überhaupt nicht überschätzen.“
Autorin: Für Neudeck ein Schlüsselerlebnis - radikal leben und sich humanitär engagieren ist bis heute sein Leitmotiv. Etwa für die Gründung des Vereins Kap Anamur 1979, der mehr als 11.000 vietnamesische Boat People rettete. Es sollten nicht wieder verzweifelte Menschen in den Fluten sterben.
Kindheitserinnerungen wirken nach. Wer weiß, ob es nicht auch manchen Freiwilligen so geht, die sich heute für Flüchtlinge einsetzen - eine überraschende Willkommenskultur. Vielleicht sind auch in ihnen die Erfahrungen der Eltern und Großeltern aus Kriegszeiten lebendig.
Rupert Neudeck sieht noch einen weiteren „Glücksfall“ in seinem Leben:
O-Ton: „Ich bin in einer Familie groß geworden, in der das Evangelium viel bedeutet hat, katholisch ja, aber egal, jedenfalls christlich. Und dieser Zufall ist ein unglaublicher, bewegender Akteur in meinem Leben. Ich habe seit meinen Kindstagen mit größter Bewegung das Samariter-Gleichnis erlebt. Immer wieder neu erlebt (lacht)“
Autorin: ... ein Gleichnis, das Jesus erzählt, von dem Mann, der unter die Räuber fällt. Niemand kümmert sich um den Verletzten am Wegesrand, bis ein Samariter kommt – selbst ein Fremder - und ihn in einer Herberge versorgt. Die Botschaft ist ebenso schlicht wie zeitlos aktuell: Wende dich nicht ab, sondern tu’ einfach, was dir möglich ist.
O-Ton: „Dieses Gleichnis habe ich ständig immer wieder in mir übersetzt, in eine neue Situation. Jemand, der heute von Aleppo nach Beirut kommt. Oder jemand, der von Bangui nach Bamako kommt. Das ist ein universales Gesetz, nach dem wir alle leben sollen, und wenn wir es täten, würde die Welt anders sein.“
Autorin: ... sagt Rupert Neudeck heute, am Tisch seines Reihenhauses in Troisdorf bei Köln, hier wo schon unzählige Krisensitzungen und Bewerbungsgespräche stattgefunden haben. Für Kap Anamur und ab 2003 für die Grünhelme, die mitten im Irakkrieg anfingen, Schulen in Bagdad zu bauen, in Kurdistan oder Afghanistan; Christen, Muslime und andere gemeinsam.
„Man kann ja doch nichts tun“, dieser Satz ist Neudeck ebenso fremd wie Resignation. Schließlich gibt es auch all’ die Hoffnungsgeschichten. Neulich wieder, als ein vietnamesischer Arzt ihn behandelt hat - einer der früheren Boat People:
O-Ton: „Und dann haben wir wieder einen Witz daraus gemacht und haben gesagt: Wir haben sie gerettet, er hat mich gerettet, jetzt sind wir quitt. Um zu sagen: Manchmal ist es genau umgekehrt. Man kann manchmal eben von dem, den man gerettet hat, auch gerettet werden.“
Autorin: „Eine Geschichte, die Neudeck schon oft erzählt hat, um anderen Hoffnung zu machen.
Buchtipp: Rupert Neudeck: Radikal leben. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2014, 160 Seiten, 14,99 Euro (zum 75. Geburtstag)