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Kirche in WDR 2 | 12.12.2015 | 05:55 Uhr
Zigeunermadonna
Die Frau hält ihr Kind auf dem Schoß. Sie stützt es mit beiden Händen, damit es aufrecht sitzen kann. Der Junge ist nackt. Er blickt den Betrachter an, genau wie seine Mutter. Das Bild von Otto Mueller zeigt eine Madonna mit Kind. Aber nicht die Maria, die wir von tausend Bildern kennen.
Ein großer Strahlenkranz scheint ihren Kopf zu umgeben. Weil ich es so gewohnt bin, denke ich an einen Heiligenschein. Auf diesem Bild ist jedoch nichts übernatürlich. Der Kranz hinter dem Kopf dieser Mutter ist ein hölzernes Wagenrad. Es zeigt, dass sie unterwegs ist. Vielleicht auf der Flucht. Vielleicht ohne feste Bleibe.
Sie trägt eine blau gestreifte Bluse und eine rote Kette. Die Farben von Maria, der Himmelskönigin. Wie die Gottesmutter zeigt sie uns ihre Brüste. Aber ihre Haut hat einen braunen Teint. Genau wie das Kind. In ihrem Mundwinkel hängt eine längliche Tabakspfeife. „Zigeunermadonna“ hat Otto Mueller dieses Bild genannt.
In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts reiste Mueller auf den Balkan. Er fühlte sich angezogen von der Welt der Zigeuner, die wir heute Sinti und Roma nennen. Bei Sarajewo lebte er eine Zeit lang als einer von ihnen. Faszinierende, ausdrucksstarke Bilder entstanden. Er malte zahlreiche Akte. Auf der Suche nach der Einheit von Mensch und Natur.
Seine Zeitgenossen konnten seine Neigung zu diesem Volk nicht begreifen. Doch sie fanden eine Erklärung: War Mueller nicht selbst ein halber Zigeuner? Sein Vater war preußischer Offizier, aus einer Professorenfamilie. Die Mutter war als Kind von einer schlesischen Gutsbesitzerin adoptiert worden. Die Herkunft ihres Vaters war unbekannt. Und so entstand das Gerücht von Otto Muellers exotischer Herkunft.
Die Wohlwollenden sahen in dieser Verbindung eine Quelle seiner künstlerischen Begabung. Wie bei Thomas Mann, dem Sohn eines hanseatischen Kaufmanns und einer Brasilianerin. Für seine nationalsozialistischen Gegner war das Gerücht dagegen ein gefundenes Fressen. So einer konnte ja nur „entartete Kunst“ hervorbringen, wie diese Banausen es nannten.
Die Herkunft Otto Muellers kann nicht völlig geklärt werden. Ich halte das auch für nicht so wichtig. Was zählt ist, dass sich die verschiedenen Kulturen in seinem Werk begegnen. Und dass aus dieser Begegnung etwas Wunderbares hervorgegangen ist.
Maria und Jesus sind bei Mueller keine gediegenen Mitteleuropäer. Keine blonden, zarten Wohlstandsgeschöpfe im großbürgerlichen Zuhause. So hat die europäische Kunst die Heilige Familie oft genug dargestellt. Sondern bei Mueller kann man etwas davon ahnen, wie Jesus tatsächlich aufgewachsen ist:
In ungesicherten Verhältnissen. Jahrelang auf der Flucht. Arm. Der Natur nah. Zugleich herb und ursprünglich. Auf dem Bild von Otto Mueller hält der Knabe eine Sonnenblume in der Hand. Ein wunderbares Zeichen für Jesus. Denn später hat er gesagt: „Ich bin das Licht der Welt.“