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Hörmal | 22.01.2017 | 07:45 Uhr
Wir brauchen Visionen
„Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen.“ So Helmut Schmidt, Bundeskanzler in den 80er Jahren. Für ihn waren Visionäre Träumer, ja Spinner. Denn: Visionen zerschellen an der harten Wirklichkeit des Lebens. Damit lässt sich keine handfeste Politik machen.
Dem Kommen und Gehen der Realpolitiker zum Trotz erzählt die Kirche von biblischen Visionären. Sei es von Jesus von Nazareth oder von dem Propheten Jesaja der sagt „Es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“
Es sind keine realitätsfernen Spinner, diese Visionäre – weder der Prophet Jesaja noch Jesus von Nazareth, der diese alten Worte aufgegriffen und neu gesprochen hat.
Die Zeitgenossen Jesajas sind von tiefer Depression erfasst. „Wir sind die Vergessenen, die Abgehängten der Weltgeschichte“, so klagen sie. Und das ist nicht nur gefühlt so. Die politischen und ökonomischen Grundlagen sind dahin. Flucht und Vertreibung haben im Nahen Osten eine lange Tradition. Heute Aleppo oder Mossul – damals Samaria oder Jerusalem. Wem nicht der Garaus gemacht wurde, der ist geflohen oder verschleppt in aller Herrn Länder, in alle Windrichtungen. Da ist wirklich nichts mehr zu erwarten.
Jesaja hält dagegen: Ihr dürft euch nicht aufgeben – weil Gott euch nicht aufgegeben hat. Er wird einen Neuanfang schaffen. Mitten im zerstörten Land. Die Vergessenen kennt er persönlich. Die Abgehängten richtet er auf. Er bringt die zurück, die geflüchtet sind oder verschleppt wurden, von Norden und vom Süden, von Osten und von Westen. Er bringt sie nach Hause. Und tatsächlich, die Vision des Jesaja erfüllt sich: Es gibt einen Wiederaufbau, es entsteht neues Leben, es gibt eine Zukunft, der vermeintlichen Faktenlage zum Trotz.
Als Jesus die Botschaft des Jesaja aufgreift, bekommt die Vision einen weiten Horizont und eine neue Zuspitzung. .
Aber Jesus richtet dieses Hoffnungswort nicht an die vermeintlich hoffnungslosen Fälle, sondern gerade an die anderen. Die Etablierten und Arrivierten, die risikofreudigen Performer und digitalen Kosmopoliten, die Selbstsicheren und Selbstgenügsamen.
Er spricht zu denen, deren visionäre Kraft sich erschöpft im Ausmalen von Wachstumskurven, deren Träume ausschließlich um den eigenen Wohlstandkreisen – oder deren Hoffnungskraft maximal für sich selber reicht.
Es sind wohl weniger die Visionäre, die den Arzt brauchen. Von Krankheit bedroht ist eine visionslose Gesellschaft: in der sich viele nur noch um sich selber drehen, in der sich große Politik mit einer vermeintlich alternativlosen Faktenlage herausredet und nicht mehr den Mut hat, an die Visionen zu erinnern, die unser Gemeinwesen begründen, an die großen Erzählungen von der Gleichheit und der Freiheit aller Menschen und von der Verantwortung gerade der Starken für die Schwachen. Von der Hoffnung auf die Zukunft Gottes für eine Welt, in der die Gegensätze von Nord und Süd und die Differenzen zwischen Ost und West endgültig überbrückt sind. Und alle gemeinsam an einem Tisch sitzen werden. Im Reich Gottes.