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Kirche in WDR 2 | 06.08.2019 | 05:55 Uhr
Zeit heilt nicht alle Wunden
„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Dieser Satz nervt mich schon seit Jahren. Er stimmt einfach nicht, finde ich.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden.
Ich stehe am Grab meines Vaters, es ist sein 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm etwas pathetisch. Der Stein antwortet nicht. Mir schießen die Tränen in die Augen. Warum bist du tot, schreie ich stumm. Er antwortet nicht. Ich atme durch, schnäuze mich und denke: die Zeit heilt nicht alle Wunden. Dieser Satz stimmt einfach nicht. Die Zeit gibt Erfahrung: sie lehrt mit Schmerz umzugehen, Tränen zuzulassen. Sie schenkt neues: Liebe zu anderen Menschen, die Geburt der eigenen Kinder, großartige emotionale Ereignisse.
Aber sie heilt nicht alle Wunden. Das ist aus meiner Sicht als Christin auch unmöglich. Die einzige Instanz, von der ich wirklich glaube, dass sie alle Wunden heilen kann, ist Gott. Von ihm glaube ich, dass Er alles in mir und in der Welt heil machen kann. Ich gehe davon aus, dass Er mir Heilung anbietet, wenn ich irgendwann vor ihm stehe. Und ich bin überzeugt, dass Er mir die Wahl lässt, diese Heilung anzunehmen. Er gibt mir absolute Freiheit als sein Geschöpf. Und zwar nicht erst im Himmel, sondern schon jetzt. Er lässt mich frei entscheiden, ob ich all das Schöne in der Welt sehen will oder nicht. Ich kann nach einem riesigen Verlust einblenden und ausblenden, was es noch gibt. Jeder gesunde Mensch hat diese Möglichkeit.
Und
deshalb ist es nicht die Zeit, die alle Wunden heilt, sondern Gott. Oder für
diejenigen, die Gott nicht so in ihrem Leben spüren: Die Wunden heilen zwar
nicht immer, aber manchmal bekommt man Menschen an die Seite gestellt, die
einem helfen, das Erlebte zu integrieren. Freunde, die Sie an das Schöne wieder
heranführen und sichtbar machen, dass da noch mehr ist, als dieser Schmerz.
Glücklich, wenn Sie so jemanden gefunden haben an Ihrer Seite. Und falls Sie
noch suchen: Geben Sie nicht auf!
