Rehe zählen

Immer wenn ich an Wiesen und Feldern vorbeifahre, gucke ich, ob da Rehe stehen. Und sobald ich welche sehe, zähle ich, so schnell ich kann. Das mache ich schon, seit ich klein bin. Wenn ich meinen Vater am Wochenende besucht habe, waren wir viel im Auto unterwegs, meistens durch die Eifel und durchs Rheinland. Und da hat er dieses Spiel erfunden: Rehe gucken und Geld einheimsen. Wer zuerst die Rehe gesehen hat, musste schnell sein. „Ich sehe fünf Rehe!“ oder so ähnlich. Wer Rehe fand, hatte Aussicht auf eine dicke Belohnung, damals fünf Mark pro Reh – eine riesige Gelegenheit also, das Taschengeld aufzubessern.

Leider hatte mein Vater selbst Spaß an der Sache und ziemlich gute Augen für alles jenseits der Straße. Trotzdem denke ich bis heute daran, wenn ich Rehe in freier Wildbahn sehe. Und dann fallen mir all die lustigen Momente dazu ein, z. B. wie ich versucht habe, alle Rehe im Gehege zu zählen und er dann meinte: die gelten nicht, die können ja nicht weglaufen…

Jedes Mal muss ich schmunzeln, denn dieses Geld gibt mir keiner mehr, aber es ist eine schöne Erinnerung. Seit vielen Jahren ist mein Vater – zumindest physisch – nicht mehr bei mir, wenn ich Rehe zähle. Vor elf Jahren ist er gestorben. Ich denke trotzdem jedes Mal an ihn, und mein Mann auch, obwohl er ihn gar nicht mehr kennengelernt hat. Wir spielen das Spiel weiter – demnächst vielleicht auch mit unseren eigenen Kindern.

Das Spiel ist unsere gemeinsame Erinnerung. Und wenn ich andere in meinem Umfeld von Menschen erzählen höre, die sie verloren haben und sehr vermissen, merke ich immer: ja, Erinnern, das ist Liebe. So steht das auch an einem Friedhof, den ich sehr mag:

Erinnern – Gedenken – Wiedersehen.

Und wenn wir uns mal wiedersehen, Papa, dann klingelt die Kasse!