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Kirche in WDR 2 | 09.02.2021 | 05:55 Uhr
flüchtig
Eva ist elf, ihr Bruder ein knappes Jahr älter, die jüngere Schwester ein Kleinkind. Weil die fremden Soldaten immer näher kommen, fliehen sie zusammen mit ihrer Mutter. Erst mit einem Zug, der aus lauter Viehwaggons besteht. Der Vater, frisch operiert, darf nicht mit. Die kleine Familie auch nur, weil ein Soldat zwei Augen zudrückt. Später können sie in einen Lazarettzug aus lauter Speisewagen umsteigen. Es geht im Zickzack durchs Land. Immer wieder führt der Weg über Ausweichstrecken, um Angriffen auszuweichen. Dann ist im Frühjahr 1945 in Erfurt Schluss. Nichts geht mehr. Kein Zug mehr gegen Westen. Aber Lastwagenfahrer transportieren Reisewillige gegen Geld. Schlepper würde man heute vielleicht sagen. Die Ersparnisse reichen gerade für Eva und ihre Familie. In Mainz ist erst mal wieder Ende. Ihnen fehlt der Passierschein.
Doch auch hier haben sie wieder Glück. Evas Mutter kann Englisch. Am Bahnhof spricht sie einen britischen Soldaten an. Erst winkt er ab, kommt dann aber doch noch mal zurück. Der Passierschein ist ihr Ticket bis Köln-Eifeltor. Zu Fuß geht’s weiter. Die Wohnung in Müngersdorf steht noch. Ein langer Weg liegt hinter Eva, meiner Mutter: von Elbing in Ostpreußen, wo ihr Großvater Landwirt ist, über Kolberg, Erfurt und Mainz bis nach Köln.
So hat sie es nach Hause geschafft. Ein deutscher Soldat und ein Alliierter haben ihre Befehle ignoriert. Meine Großmutter hat Schlepper bezahlt, um weiter zu kommen.
Daran muss ich manchmal denken, wenn ich das
Schicksal von Geflüchteten heute sehe. Welche Wege sie auf sich nehmen und
welche Gefahren, um heute dem Krieg zu entkommen – in Syrien, Afghanistan oder
anderswo. Niemand flieht ohne Grund. Und ich finde, jeder verdient ein faires
Asylverfahren, statt in überfüllten Lagern festzusitzen, wo Kälte, Hunger und
Ratten regieren.
Vielleicht horchen Sie mal bei den Großeltern oder in der Nachbarschaft nach, welche Fluchterfahrungen ältere Menschen gemacht haben. Ein paar Zeitzeugen gibt es ja noch, die damals Kinder gewesen sind. Dann rutscht das Thema raus aus der Theorie in die Praxis.
Praktisch wird es übrigens auch an anderer Stelle. Letzte Woche hat ein junger Mann mit syrischen Wurzeln meinem Vater im Krankenhaus das Blut abgenommen. Und Natalia aus der Ukraine zieht ihm jeden Abend seine Stützstrümpfe aus. Ich weiß nicht, wie die beiden nach Köln gekommen sind. Aber ich habe so eine Idee.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth