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Kirche in WDR 2 | 15.06.2023 | 05:55 Uhr
Kapitulation
Bald ist es geschafft. Denkt sie. Wenn ich nur noch ...
Aber dann wird ihr schnell klar, dass alles so sein wird wie immer. Schlimmer: Alle und alles würde so bleiben wie immer. Na ja, fast.
Weil – wenn ich nur, dann ... Diesen Gedanken hat sie immer noch erstaunlich oft dafür, dass sie sich nicht und auch alles andere so gut wie nicht verändert hat. Also von sich aus. Ich müsste nur, - ja was denn?
Weg. Ist
immer ihr erster Gedanke. Weg von hier. Weg von diesen Scheiß -Arbeits-bedingungen.
Weg von diesen leeren Versprechungen. Weg von dem hohlen „Ja, Ja, wir verstehen
Sie doch. Wir sind da dran. Wir sind ja so dankbar, dass Sie überhaupt noch
durchhalten.“ Sie kann den Würgereiz, der sie immer wieder überkommt,
unterdrücken. Indem sie einfach ein bisschen schneller arbeitet.
Und
überhaupt: Hat sie eigentlich dem Hund Wasser gegeben?
So vergehen Tage, Monate, schließlich Jahre. Es ist kaum auszuhalten.
Für den Bruchteil eines Moments, den sie leider nicht vergessen kann, ist ihr
vollkommen klar gewesen: Sie hat sich in ihrem Elend eingerichtet. Dabei ist es
auch Anderen aufgefallen. Das es zu viel ist. Kunden haben sie darauf
angesprochen. Peinlich ist ihr das. So will sie sich nicht gesehen wissen. Na,
so ein bisschen Leiden für die gute Sache. Ok. Man kennt sie. Man schätzt sie.
Die Leute freuen sich, sie zu sehen und halten gerne einen Pläuschchen mit ihr.
Dabei versucht sie möglichst unauffällig ihre Zahnlücke zu bedecken. Aber für
den Zahnarzt müsste sie alles unterbrechen und wer versorgt dann die Leute? Ist
ihr früher nicht passiert. Dass sie so rumgelaufen ist. Wann war das eigentlich
„früher“?
Sie
versucht sich an sich selbst zu erinnern und sieht die Frau, die sie einst
gewesen ist: engagiert, ein Herz wie ein Bahnhof, immer ein Lächeln auf den
Lippen und: mit Zahn. Und einer Hüfte, die einfach da gewesen ist und keinen
Ärger gemacht hat.
Und jetzt: Stopp. Schreit sie sich wortlos an. Stopp.
Ich
kann nicht mehr. Denkt etwas in ihr. So ist es: Sie findet es in sich vor: Ich
kann doch nicht mehr.
Ein Anfang. Die Kapitulation – der Anfang von etwas Neuem.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius