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Kirche in WDR 2 | 11.07.2023 | 05:55 Uhr
Wir brauchen Illusionen
Mit der Bergpredigt kann man keine Politik machen! Darin sind sich neuerdings Politik, Medien und selbst die Kirchen einig. Die Bergpredigt mag Auftrag sein, aber spätestens nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine sind Worte wie Versöhnung, Liebe – also christliche Grundwerte – im öffentlichen Diskurs verschwunden. Vielleicht geht´s noch auf dem Kirchentag. Liebe und Versöhnung sind einmal mehr verbrannt. Weltfremd. Eine Illusion.
Vor Jahren habe ich das Glück gehabt, Patrizia Ariza kennen zu lernen. Sie ist eine Ikone des politischen Theaters in Südamerika. Sie hat das Theater LA CANDELARIA in der Altstadt von Bogota gegründet und jahrzehntelang geleitet. Hier arbeitet sie u.a. mit Straßenkindern und Seniorinnen und Senioren, die am Existenzminimum leben. Wegen ihres politischen Engagements hat sie mehrfach Morddrohungen bekommen. Zwanzig Jahre lang hat sie eine schusssichere Weste getragen. Mehrfach sind Anschläge auf sie verübt worden.
Bei einem Workshop mit Gefangenen der JVA Wuppertal hat sie gesagt: „Wir brauchen Illusionen, um zu überleben!“ Ich habe erst gedacht, es sei ein Übersetzungsfehler. „Visionen“ hätte ich verstanden oder: „Hoffnung“. Aber unter „Illusionen“ verstehen wir in Mitteleuropa eine falsche Wahrnehmung von Wirklichkeit. „Mach dir keine Illusionen!“ Da gilt einer, der sich Illusionen hingibt, als weltfremd, als Spinner.
„Wir brauchen Illusionen, um zu überleben“, sagt eine Frau, der man bestimmt keine Weltfremdheit vorwerfen kann. Im Gegenteil. Wenn sie auf der Bühne inszeniert, hinterfragt sie die gesellschaftliche Realität. Die Armut bekommt ein Gesicht. Muss eigentlich alles so bleiben, wie es ist? Illusionen können gefährlich sein, nicht weil sie vor der Welt fliehen, sondern weil sie andere, vielleicht fremde Bilder von Welt zeichnen. Vorstellungen von dem, was sein könnte.
In dem Sinne ist Liebe sicher auch eine Illusion. Eine andere Sichtweise auf die Welt, die der Realität immer wieder geopfert wird. Nur weltfremde Spinner glauben noch an sie. Jedenfalls braucht Liebe heute mehr denn je eine schusssichere Weste.
Patricia Ariza hat die Anschläge überlebt. Sie bekam weltweit Preise für ihre Arbeit. Ich durfte zwei Konzerte in ihrem Theater spielen. Im vergangenen Jahr wurde sie mit 76 Jahren Kulturministerin in Kolumbien.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
