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Kirche in WDR 2 | 14.08.2023 | 05:55 Uhr
60 mm
Ich erzähle das deswegen, weil das Trio ein Stück gespielt hat, was mich sehr berührt hat. Rainer hat es komponiert. Und bevor sie es gespielt haben, hat Rainer erzählt, wie es entstanden ist. Sein Vater war ins Krankenhaus gekommen. Ein Aneurysma sollte entfernt werden. Es hat Komplikationen gegeben. Und dann war plötzlich klar, dass sein Vater das womöglich nicht überleben würde. Und sein großer Wunsch, seinen Sohn noch einmal in einem Konzert zu erleben würde wohl auch nicht in Erfüllung gehen. Und da hat Rainer seine Flöte nicht nur mit in die Intensivstation genommen. Sondern er hat versucht, diese besondere Zeit in ein Stück Musik zu kleiden: Das Zimmer, und in dem Zimmer sein Vater und sein Leben, von dem alle wussten, dass das jetzt langsam still wird. „60 mm“ hat Rainer seine Komposition genannt. Weil das Aneurysma, weswegen sein Vater überhaupt ins Krankenhaus gekommen war und weswegen sich nun alles so schrecklich verändert hatte, dieses Aneurysma war 60 mm groß.
Als Rainer das nun in der Kirche erzählt hat, da ist es ganz still geworden. Und dann ging die Musik los. Und der Raum füllte sich: mit dem Klackern des Beatmungsgerätes, dem Surren der Maschinen, den Atemzügen des Vaters. Ich habe förmlich Gedanken durch den Raum wirbeln hören. Ängste und Tränen. Dann wieder tanzendes Sonnenlicht. Träumende Leichtigkeit. Verrinnende Vater-Sohn-Zeit. Das Ineinander-Verwirbelt-Sein von Erinnerungen und Ängsten. Leichtigkeit und Schwere. Einatmen und Ausatmen. Vogelschwebende Lebendigkeit und verrinnende sterbende Zeit. Der Vater und der Sohn und diese intensiven Momente geronnenen Lebens in der Gestalt dieser fantastischen Musik.
Nach dem Konzert habe ich mit Rainer noch
lange über sein Stück gesprochen. Zum einen über die Solidarität, dass im
Augenblick des Sterbens des Vaters der Sohn nicht ausweicht, sondern mit ihm in
Verbindung bleibt. Und vor allem über die Kraft, die in diesem Stück Musik
steckt. Ich fand, Rainer hatte nämlich geschafft, diese schwierige Zeit, in der
ein Leben zu Ende geht mit der schöpferischen Kraft seiner Musik aufzunehmen
und in ein Stück Trost und Hoffnung zu verwandeln. In diese sirrenden,
klopfenden, schwebenden Töne, die an diesem Abend durch unsere Kirche zogen.
Und deswegen nehme ich heute Rainers Hoffnung und Trost mit in die Woche: Wie
viel schöner ist eine Welt, in der Krankheit, Sterben, Verzweiflung und Tod
Menschen wie Rainer nicht einerlei sind. Und die damit jetzt schon ein bisschen
was von dem leben, auf das Christinnen und Christen hoffen: dass Gott -
womöglich wie ein Komponist - all das Dunkle, Atemlose und Sterbende verwandeln
wird. Immer dann, wenn es nötig wird. Nicht nur an diesem Montagmorgen.