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Kirche in WDR 3 | 15.05.2019 | 07:50 Uhr
Europa - geprägt von Schmerzen
Europa wählt. Was das mit „Kirche im WDR“ zu tun hat? Möchte ich Ihnen gerne erzählen.
Die Fundamente Europas sind nämlich von Heiligen gegossen worden. Jetzt können Sie denken: Der spinnt doch. Aber ich meine das ernst. Selbstverständlich habe ich dabei nicht die Heiligen im Kopf, wie ich sie mir als Kind immer vorgestellt habe. Also: Immer freundlich. Immer geduldig. Ich denke da auch nicht an die Lichtgestalten, wie ich sie von diesen Hochglanz-Bildchen kenne. Wie sie mir groß in Öl auf Leinwand in Kirchen und Museen präsentiert werden. Oder von denen in Legenden Übermenschliches berichtet wird: Frauen und Männer die zum Beispiel mit Tieren reden konnten. Und bei denen selbst Folter und Tod sich wie erhabene Szenen in bester Hollywood-Manier präsentieren.
An alle diese Heiligen denke ich nicht – obwohl die ganz sicher auch viel von dem verkörpern, was Europa geprägt hat und ausmacht. Ich denke an einen Menschen wie Abbé Franz Stock. Ein Priester aus meiner westfälischen Heimat. Mit dem bin ich erstmalig irgendwann vor nicht ganz zehn Jahren konfrontiert worden. Ich habe mich da nämlich plötzlich am Rande eines Seligsprechungs-Verfahrens wiedergefunden. Und da ging es genau um ihn. Mir ist damals recht schnell klar geworden: Im Leben dieses Abbé Stocks – da war ziemlich wenig Erhabenheit und Glanz. Denn er verbrachte den Zweiten Weltkrieg größtenteils in den Pariser Wehrmachtsgefängnissen. Er musste dort etwas tun, was mir bis heute unvorstellbar schwer erscheint: Er hatte Frauen und Männer zu begleiten, die von deutschen Soldaten exekutiert, erschossen werden sollten. Ohne ins Detail zu gehen: Abbé Stock wird da an Orten gewesen sein, die waren dreckig. Da wird die Angst zu riechen gewesen sein. Ihm wird Trauer und Wut und Verzweiflung entgegengeschlagen haben. Er wird selber auch verzweifelt gewesen sein angesichts einer Welt, in der jede Menschlichkeit abhandengekommen zu sein scheint. Und wenn der Priester Franz Stock dann die letzten Meter zu den Erschießungspfählen auf dem Mont Valerien in Paris mitgehen musste, wenn er zusehen musste, wie die Gewehre angelegt und abgefeuert wurden – dann werden diese Situationen alles gehabt haben – aber ganz sicher nichts Erhabenes.
Und nun soll Abbé Stock heiliggesprochen werden. Weil er in diesem Schrecken Mut zugesprochen hat. Nicht im Sinne einer besonderen Perversion des deutschen Unterdrückungsapparates. Sondern in echter Mitmenschlichkeit. Abbé Stock verstand es, quälende Ungewissenheiten zu mildern. Er wusste denen, die als Feinde eingekerkert waren, immer und immer wieder zu verstehen zu geben, dass er ihnen nicht als Deutscher, nicht als Gegner, sondern als Bruder, als Mensch begegnete. Er schmuggelte Nachrichten, überbrachte Botschaften und tröstete – Opfer wie Angehörige.
Später, nach dem Krieg, war Franz Stock dann selber Kriegsgefangener. Und in dieser Zeit baute er in Chartres ein Priesterseminar hinter Gittern auf. Ein „Stacheldrahtseminar“. Mit dem Ziel, nicht nur eine theologische Ausbildung zu vermitteln, sondern auch verlässlichere Grundlagen gegen den Nazi-Irrsinn der Vergangenheit zu schaffen.
Mir ist damals klar geworden: Dieser Abbé Stock – das war jemand, der mit seinem Wirken die Fundamente neu gegossen hat, auf denen wir Europa heute bauen können. Er hat Ehre ohne Ruhm, Größe ohne Glanz und Würde ohne Sold gezeigt.[1] Er hat die Ideen gelebt, auf denen dieser Kontinent gründet: Solidarität und Gerechtigkeit, Menschlichkeit und Güte. Und er hat mit seinem Tun bewiesen: Die Umstände mögen noch so schrecklich, die Bedingungen noch so hart sein – eine Grundhaltung, eine Grunderkenntnis sollten wir uns immer bewahren: Dass wir Schwestern und Brüder sind. Und dass wir in dem ganzen Schmerz, in der Trauer und in der Erinnerung an das viele Schlimme, dass wir uns angetan haben, in dem Unverständnis, dass da ist und bleiben wird – dass wir da eben die Verpflichtung nicht vergessen dürfen, die uns aufgetragen ist und die Franz Stock so wunderbar vorgelebt hat: Dass Krieg und Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung – dass die niemals vereinbar sind mit dem Wissen, dass wir einen gemeinsamen Vater im Himmel haben.
In diesem Sinne grüßt Sie herzlich, Ihr Diakon Claudius Rosenthal aus Altenwenden.
[1]
Cf. Benjamin, Walter 1984: Deutsche Menschen.
Eine Folge von Briefen. Frankfurt/M.: Suhrkamp. S. 6.