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Choralandacht | 26.10.2019 | 07:50 Uhr
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Aus tiefer Not schrei ich zu Dir (eg 299)
Overvoice-Sprecherin: Aus tiefer Not schrei ich
zu dir!
Aus tiefer Not schrei ich
zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.
Dein gnädig Ohren kehr zu
mir und meiner Bitt sie öffne;
denn so du willst das
sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan,
wer kann, Herr, vor dir
bleiben?
Autor: „Mein Leben ist
schwarz“, bricht es aus Amir heraus. „Ich habe immer keine Chance“. Amir ist 16
Jahre alt und aus dem Iran geflüchtet. Ein deutsches Fernsehteam trifft ihn in
Italien unter einer Brücke. Amir ist obdachlos. Nach elf Monaten in Deutschland
hat die Polizei ihn, seinen älteren Bruder und den Vater zurück in jenes Land geschickt,
in dem sie auf ihrer Flucht zum ersten Mal registriert worden waren. Die Mutter
blieb in Deutschland zurück. Sie liegt im Krankenhaus. In der Zeit vor ihrer
Ausweisung hatte Amir bereits gut die deutsche Sprache gelernt. Er hat sich
wohlgefühlt in unserem Land und an eine gute Zukunft geglaubt. Als dann die
Polizei kam, wollte er sich das Leben nehmen. Er zeigt die Schnittwunden an
seinen Armen und was er sagt, ist nichts anderes als ein Schrei aus tiefster
Not: „Ich habe immer keine Chance“.
Musik 2: Track 4 „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“, CD: Die schönsten Choräle, Martin Luther - Verleih uns Frieden gnädiglich, Text und Melodie: Martin Luther, Label: Schulte & Gerth, LC-Nr.: 06160, Bestell-Nr.: 938919.
Autor: Aus tiefer Not schreien Menschen zu Gott, zu allen Zeiten. Not kann unverschuldet über Menschen und Völker kommen, so wie bei Amir und seiner Familie. Krieg oder Verfolgung können Gründe sein, Dürre und Hungersnot, der Tod eines geliebten Menschen. Plötzlich ist sie da, die himmelschreiende Notlage.
Not kann aber auch in uns selbst entstehen, durch böse Gedanken und Worte, durch Eifersucht und Neid, durch Zweifel, durch Schuld und Gewissensbisse, die in uns nagen.
Als Martin Luther den Choral „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ 1524 in Anlehnung an Psalm 130 schrieb, war seine Notlage die verzweifelte Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Und was ist, wenn mich Gott mit den Augen eines strengen Richters ansieht? Mich, der ich in Schuld verstrickt bin?
Im
hebräischen Urtext von Psalm 130 beschreibt der Beter seine Notlage mit einem
Wort, das übersetzt „Wassertiefen“ heißt. „Aus der Tiefe schreie ich zu dir“
meint also, dass dem Beter das Wasser bis zum Hals steht. Er hat den Boden
unter den Füßen verloren, so wie Amir aus dem Iran Denn die „Wassertiefen“ sind
der Todesbereich. Sie stehen für Gottverlassenheit. Und das bedeutet: Im Grunde
gibt es keine Hilfe, es gibt keinen Trost. Doch der Beter des Psalms gibt nicht
auf. Er will nicht von Gott lassen. Vielmehr ruft er:
Sprecherin: „Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort“ (Psalm 130,5)
Autor: Zwei Mal verwendet Luther dieses heute antiquierte und dabei so kraftvolle Wort „harren“. Es beschreibt die sich widersetzende Haltung des fast schon versunkenen Beters. Er kämpft. Er will sich nicht unterkriegen lassen. Er bleibt beharrlich, selbst in größter Not. Nichts kann ihn von der Überzeugung abbringen, dass Gott helfen kann und helfen wird.
Diese Beharrlichkeit hat Luther selbst bis in die Tiefe seiner Existenz durchlebt, oft verzweifelt, doch nie hoffnungslos. Ich bin überzeugt davon, dass ihm in seinem Ringen ums seelische Überleben die Sprache der Musik als Therapie zur Seite stand. Er selbst beschreibt deren heilsame Kraft so:
Sprecherin: „Ich gebe der Musik den ersten Platz nach der Theologie. Musik ist eine Trösterin, weil sie die Seele fröhlich macht, weil sie den Teufel verjagt, weil sie unschuldige Freude weckt. Darüber vergehen die Zornanwandlungen, die Begierden, der Hochmut“ (1)
Musik 3: Track 16 „ Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“, CD: Telemannisches Gesangbuch, Text: Martin Luther, Melodie: Georg Philipp Telemann, Leitung: Thomas Fritzsch, Südwestrundfunk und Carus-Verlag, Bestell-Nr.: 83.340.
Overvoice-Sprecherin:
Darum auf Gott will
hoffen ich, auf mein Verdienst nicht bauen,
auf ihn mein Herz soll
lassen sich und seiner Güte trauen,
die mir zusagt sein
wertes Wort; das ist mein Trost und treuer Hort,
des will ich allzeit
harren.
Sprecherin: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen,
mehr als die Wächter auf den Morgen“ (Psalm 130, 6).
Autor: Wer selbst schon Nächte
durchwacht hat, an einem Krankenbett, mit Angst vor einem Überfall, schlaflos
in einer Krise, der wird sich erinnern, wie unheimlich und kräftezehrend das
Warten auf die Morgenröte ist. In Psalm 130 steht der anbrechende Morgen für
das hilfreiche Einschreiten Gottes. Es wird hell. Klarheit tritt ein, schön wie
das Licht des ersten Schöpfungstages oder auch des Ostermorgens. Und Hoffnung
bricht sich Bahn. Die reformatorische Entdeckung von der immer vorausgehenden,
von der geschenkten Gnade war für Martin Luther wie der Anbruch eines neuen
Tages. Plötzlich konnte er verstehen und auf sein Leben beziehen, was der
Apostel Paulus der Gemeinde in Rom geschrieben hatte:
Sprecherin: „Es ist hier kein Unterschied: Wir sind allesamt Sünder … und werden
ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Christus
Jesus geschehen ist“ (Röm 3, 22ff)
Autor: Aus tiefer Not schrei
ich zu dir, war 1524 das zweite Lied aus der Feder von Martin Luther. Er steht
mit diesem Schrei nicht allein. Zu allen Zeiten haben Menschen in tiefer Not so
geschrien und auf eine Wende zum Guten in ihrem Leben gewartet. Amir, der
verzweifelte 16Jährige aus dem Iran ist heute einer von ihnen. Ruhe findet er
keine, dort im italienischen Bari, im Regen unter freiem Himmel. Doch er harrt
aus. Mit seinem Bruder und seinem Vater wartet er, wie ein Wächter auf den
Morgen. Und als ihm das Fernsehteam eine Videoschaltung zu seiner Mutter im
Krankenhaus ermöglicht, ruft er unter Tränen: „Mama, wir beten, dass alles
wieder gut wird“.
Musik 4 = Musik 2: „Aus tiefer Not schrei
ich zu Dir“, 5. Strophe
Quellen:
(1)Martin Luther, Traktat
über die Musik, 1530. In: M. Rößler, Liedermacher im Gesangbuch, Stuttgart
1990, S. 40 f)
Redaktion: Pfarrer i.R. Dr. Gerd
Höft