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Kirche in WDR 3 | 18.03.2020 | 07:50 Uhr
Blaue Stunde
Georg Lauscher
Aachen
In dieser Stunde vor Sonnenaufgang ist es schon hell. In dieser Stunde nach Sonnenuntergang ist es noch hell. Und dies, obwohl in beiden Fällen die Sonne nicht zu sehen ist. Der Himmel leuchtet in einem so freundlichen Blau, dass es mich verliebt macht in Gott und die Welt. Es bannt meinen Blick. Vor diesem Blau dann die Silhouetten der Erde, der Bäume und Gebäude. Alles in mildes Licht getaucht. Und der Hintergrund von allem leuchtet.
Diese blaue Stunde schwebt und vibriert zwischen Tag und Nacht. Sie ist wie eine Brücke von einem zum anderen. Ja, die ganze Welt wird mir da zur Brücke – vom Sichtbaren ins Unsichtbare.
Ich liebe diese Stunde. Selten bemerke ich sie. Wenn ich sie bemerke, schließe ich Frieden mit der Tag- und Nachtseite meines Lebens. Diese blaue Stunde schenkt ein mildes Gewahrsein, eine Verbundenheit, die glücklich macht und tiefer reicht als alle Konflikte des Tages.
Der spätere tschechische Präsident Vaclav Havel beschreibt als
politischer Gefangener eine ähnliche
Erfahrung unter dem freiem Himmel im Gefängnishof: „Eine versöhnte, ja fast
zärtliche Zustimmung zu dem unausweichlichen Lauf der Dinge verband sich in mir
mit der sorglosen Entschlossenheit, all dem entgegenzutreten, dem man
entgegentreten muss“.[1]
– So schreibt Havel in seinen „Betrachtungen aus dem Gefängnis.“
Einer, der ebenso aufrecht seinen Weg ging und zwischen alle Stühle
geriet, der Theologe John Henry Newman, schrieb wohl in einer ähnlichen Stunde
dieses Gebet:
„Freundliches Licht, um mich ist
Finsternis: Zeig du den Weg! Zweifel in mir, die Zukunft ungewiss: Zeig du den Weg, nur einen Schritt!
Ich frage nicht nach mehr. So führ mich heim, und leuchte vor mir her.“
Und ich bete weiter: Und gib mir die „sorglose Entschlossenheit, all dem entgegenzutreten, dem man entgegentreten muss“!
Aus Aachen grüßt Sie Spiritual Georg Lauscher
[1] Vaclav Havel, Briefe an Olga. Betrachtungen aus dem Gefängnis, Hamburg Neuausgabe 1991, 265.