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Kirche in WDR 3 | 16.04.2020 | 07:50 Uhr
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Ich gebe zu – als vor etwas mehr als vier Wochen die Schulen geschlossen wurden, da habe ich mich erst einmal dabei erwischt, wie ich mich einem Vorurteil ergeben habe. Ich dachte mir nämlich: Na super – die Mädchen und Jungen werden nach Hause geschickt. Die Mamas und Papas dürfen sich um die Betreuung kümmern. Und die Lehrerinnen und Lehrer? Naja… Dann hörte ich im Radio, dass die Schulen sich der neuen Medien bedienen wollen. Digitales Lernen. Technisch sei man dafür ja gerüstet. Und ein zweites Mal dachte ich: Naja …
Nach ein paar Tagen Schulschließung wollte ich dann meine kleine vorurteilsbeladene Welt mit der Wirklichkeit abgleichen. Mein Sohn erzählte mir aber mit breitem Grinsen, dass er mit einem super Textverarbeitungsprogramm ausgestattet worden sei. Dass er seine Aufgaben und Aufträge auf unterschiedlichen Kanälen bekomme: über die cloud, per mail, im Chat, auf der Plattform. Und dass er die gleichen Wege bediene, um die Ergebnisse zu liefern. Ok – dachte ich mir. Dann hast Du dich an dem Punkt also geirrt. Aber der ganze Rest stimmt wahrscheinlich …
Zwei Tage später erzählte mir mein Sohn dann, dass ihm eine der gestellten Aufgaben durchgegangen sei. Dass er die noch tief in der Nacht müde und in Eile geschrieben und abgeschickt habe. Und als er das so erzählte, waren sie schnell wieder da, meine Vorurteile. Und ich dachte mir: Naja, wird wohl niemanden stören. Die nehmen wahrscheinlich eh nur zur Kenntnis, dass alle geliefert haben…
Was dann tatsächlich passierte, war: Die Lehrerin gab meinem Sohn eine lange, sehr persönliche Rückmeldung. Sie lobte ausführlich, wo es etwas zu loben gab. Sie kritisierte, wo es etwas zu kritisieren gab. Und sie gab Tipps, wie das eine oder andere für die beizeiten anstehende Klausur besser gemacht werden könne.
Nichts also mit unpersönlicher Eingangsbestätigung. Nichts mit oberflächlichem Abarbeiten. Auch nichts mit Wegducken oder Abtauchen im digitalen Off. Im Gegenteil. Die Rahmenbedingungen hatten sich zwar verschlechtert, die Möglichkeiten zum direkten Gespräch waren gleich null – doch diese Lehrerin ging mit so viel persönlichem Einsatz und so viel Zeit und Engagement vor: Das war beeindruckend. Auch für meinen Sohn – der uns diesen Brief sichtlich berührt vorlas.
Das Schöne an dieser Geschichte war: Sie blieb kein Einzelfall. Denn Freunde und Bekannte erzählen mir das Gleiche. Ganz viele Erzieher und Lehrer leisten seit Wochen Herausragendes, um ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden. Doch davon einmal abgesehen: Irgendwie hat mich dieser persönliche Brief und die Situation, in die herein ihn die Lehrerin geschrieben hat – irgendwie hat er mich daran erinnert, wie mein Verhältnis zum lieben Gott manchmal ist. Da habe ich auch so meine Urteile und Vorurteile. Da denke ich auch, dass er weit weg ist. Dass ich gar keine Möglichkeit habe, mal Auge in Auge mit ihm zu sprechen. Dass ich ihn gar nicht „in echt“ erleben kann. Und dass er deshalb gar nicht weiß, wie es mir geht. Dass er nicht auf mein Leben eingeht. Schlimmer noch: Dass ihm egal ist, was ich tue oder nicht. Dass er sich wegduckt. Und dann bin ich ziemlich dankbar, wenn ich höre: „Sie haben Post.“ Wenn der liebe Gott mir also eine Nachricht zukommen lässt. Auf ungewöhnlichen Kanälen. Überhaupt nicht vorhersehbar. Nicht erwartbar. Aber herzlich. Wohlwollend. Anteil nehmend. Mit viel Zeit. Viel Verständnis. Viel Wohlwollen. Viel Herz. Wie diese Rückmeldung der Lehrerin auf die schnell gemachte nächtliche Hausarbeit meines Sohnes.
Hausaufgaben machen Sie sicherlich nicht mehr. Aber dass auch Sie in diesen Tagen solche Nachrichten bekommen – das wünscht Ihnen Ihr Diakon Claudius Rosenthal aus Altenwenden.