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Kirche in WDR 3 | 11.05.2021 | 07:50 Uhr
Kettfaden
Ist schon ein paar Jahre her. Wir waren auf einer kleinen Tour durch die schöne Eifel. Und der Zufall wollte es, dass wir auf der Rückfahrt in Kuchenheim an einer alten Tuchfabrik vorbeikamen. „Auch nett“, dachten wir. Und weil es noch recht früh war, wir noch ein wenig Zeit hatten, beschlossen wir, uns ein klein wenig auf zu schlauen in Sachen „Weben und Spinnen“. Wir haben uns also auf eine Erkundungstour in die Tuchproduktion gemacht, wie sie vor etwa 100 Jahren üblich war. Heißt: Wir standen vor Bergen von Schafswolle, die von gewaltigen Krempelmaschinen gekämmt wurde. Wir haben gesehen, wie die gekämmte Wolle dann in einem anderen technischen Meisterwerk zu einem feinen Faden gesponnen wurde. Wir haben vor riesigen Webstühlen gestanden, in denen die Webschützen den Schussfaden mit einem Knall von Webkante zu Webkante durch den aufgespannten Kettfaden sausen ließen und wie alles das – die ganze Technik – von einer riesigen Dampfmaschine angetrieben wurde. Was mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, das war die Sache mit dem Kettfaden: Denn wenn das Garn auf einer Spindel aufgebraucht war oder der Schussfaden einmal riss, dann wurde eben eine neue Spindel eingesetzt oder der Schussfaden neu angesetzt. Denn so lange der Kettfaden hielt, war das kein Problem. Im fertigen Tuch war von dem kleinen „Fehler“ auch nichts zu sehen. Und noch etwas war erstaunlich. Denn die Art und Weise, wie der Kettfaden durch die Litzen auf den verschiedenen Schäften angeordnet war, bestimmte das spätere Muster des Tuchs. Dieser Kettfaden – der hatte also eine zentrale Bedeutung. Das war mir ziemlich schnell klar. Ohne Kettfaden bliebe alles einfach nur eine lose Ansammlung von Garn und Faden. Den braucht es. Der Kettfaden erst gibt dem Stoff Halt und Form und Muster.
Für mich ist dieser Kettfaden aber an diesem Tag auch zu einem schönen Bild für mein Leben geworden: Da brauche ich so etwas nämlich auch. Ich brauche einen Kettfaden, einen roten Faden, der die vielen Fäden der unterschiedlichen Spindeln zusammenhält. Ich brauche einen Kettfaden, damit mein Leben Muster und Struktur bekommt. Ich brauche einen Kettfaden, damit nicht das ganze Werk für die Tonne ist, wenn mal der Faden reißt oder die Spindel leer ist. Ich brauche einen Kettfaden, um die vielen unterschiedlichen Farben in meinem Leben so anzuordnen, dass nicht nur ein buntes Allerlei entsteht. Sondern etwas Schönes – der Stoff meines Lebens. Ich würde diesen Gedanken jetzt nicht mit Ihnen teilen, wenn für mich dieser Kettfaden nicht Jesus Christus heißen würde. Aber selbst, wenn Sie diesen letzten Schritt nicht mitgehen wollen oder können: Ich wünsche Ihnen, dass auch Sie in Ihrem Leben solch einen Kettfaden haben. Dass es da etwas gibt, was durch den Tag und das Jahr fest und verlässlich ist – ganz gleich, welche Qualität und Farbe das Garn auf der Spindel Ihres Alltags hat. Und ich wünsche Ihnen, dass Sie immer wieder auf das heute fertig gewordene Stück Lebensstoff schauen können und feststellen dürfen: Der Kettfaden war gut auf gehangen. Das ist schön geworden! Ihr Diakon Claudius Rosenthal aus Altenwenden.