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Choralandacht | 11.09.2021 | 07:50 Uhr
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Weicht, ihr Berge, fallt, ihr Hügel (eg 646)
Autor:
Vor mir auf dem Tisch liegt ein altes, ziemlich abgenutztes Gesangbuch. Meine schlesische Urgroßmutter Caroline hat es als Erste benutzt. Über einem der Choräle steht handschriftlich das Wort „Mütterli“. So wurde sie wegen ihrer unaufgeregten und unaufdringlichen Wärme von allen nahen und fernen Familienmitgliedern genannt, nicht nur von ihren 5 Kindern. „Weicht, ihr Berge, fallt, ihr Hügel“: in der Familie wusste man - das ist Mütterli Carolines Lieblingschoral. In unserem westfälischen Gesangbuch hat er es gerade noch ganz hinten in den Anhang geschafft - Nummer 646:
Musik 1
Titel: Tut mir auf die schöne Pforte;
Interpret: Genesis Brass & Christian Sprenger; Komponist: Anne Weckeßer & Joachim Neander; Album: Choralfantasien; Label: 2009 Gerth Medien
Sprecherin (overvoice):
Weicht, ihr Berge, fallt, ihr Hügel, Berg und Felsen, brechet ein! Gottes Treu hat dieses Siegel: „Ich will unverändert sein.« Sollt die Welt zu Trümmern gehn: Gottes Gnade muss bestehn.
Autor:
An Gottes Gnade festhalten auch im Angesicht von Trümmerlandschaften - warum war der sanften Caroline dies heftige Lied so wichtig? Ein Grund wohl: bevor sie einen Pastor heiratete, da war sie an vielen Orten Krankenschwester gewesen und hat es gewiss immer wieder erlebt, wie schnell für einen Menschen, eine Familie die Welt zusammenbrechen kann. Auch in Schweidnitz hat sie gearbeitet und ist hier sicher oft mit ihren Gedanken und Gebeten in die berühmte Friedenskirche gegangen. Dort war von 1702 an Benjamin Schmolck bis zu seinem Tod 1737 Pfarrer gewesen. Er hat dies Lied gedichtet. In allen Strophen wird nur über einen einzigen Bibelvers meditiert. Jesaja Kapitel 54, Vers 10. Ein prophetisches Wort an ein Volk, dessen Welt in Trümmern lag:
Musik 2
Titel: Prelude on "Unser Herrscher" (After Neander);
Inperpretin: Marilyn Keiser; Komponist: John Ferguson; Album: The People Respond Amen!; Label: 1994 Pro Organo
Sprecherin (overvoice):
Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Autor:
Das Volk Israel lebt im babylonischen Exil, der Tempel daheim ist in Trümmer gelegt, viele zweifeln an Gott. Sie hören die Zusage: Gott ist an eurer Seite! Und mit der Tempelruine wird etwas geschehen! Für Pfarrer Schmolck hatte seine Friedenskirche etwas vom Geist des wiederaufgebauten Tempels in Jerusalem:
Im Zuge des 30jährigen Kriegs hatte der katholische Herrscher Schlesiens alle evangelischen Kirchen enteignet - und erst nach Jahren erlaubt, dass vor den Toren von Schweidnitz eine neue gebaut werden durfte, eine von wenigen Ausnahmen; nur Lehm, Stroh und Holz wurden gestattet, und da die Evangelischen aus der Stadt und aus 36 umliegenden Ortschaften zusammenströmen mussten, ist so die größte Fachwerk-Kirche Europas entstanden.
Musik 1
Sprecherin (overvoice):
Seine Gnade soll nicht weichen, wenn gleich alles bricht und fällt; nein, sie muss das Ziel erreichen, bis sie mich zufriedenstellt.
Autor:
Eine Kirche als Friedenszeichen nach den Zusammenbrüchen eines 30jährigem Kriegs. „Tut mir auf die schöne Pforte, führt in Gottes Haus mich ein.“
Ein anderes Lied von Benjamin Schmolck, gedichtet für seine Friedenskirche. Die vertraute Melodie dazu steht auch über unserem heutigen Choral. Meine Urgroßmutter wird den großen Schutzraum wie Pastor Schmolck erlebt haben. Ein Raum, in dem Gott gegenwärtig ist, in dem Gottes Gnade erlebt werden kann. Wieviel Kriegszeiten hatte die Kirche dann noch zu überstehen. Im Jahr 2001 ist sie in die Weltkultur-Liste der UNESCO aufgenommen worden. Das ist 20 Jahre her. Und auf den Tag genau heute vor 20 Jahren brechen und fallen durch einen Terroranschlag die Türme des World Trade Centers. Ein unsagbares Kriegszeichen.
Musik 3
Chorale Preludes, Vol. 1: No. 9. Weicht ihr Berge, fallt ihr Hugel;
Interpret: Wolfgang Rübsam; Komponist: Helmut Walcha; Album: Walcha: Chorale Preludes,, Vol. 1; Label: 2012 Naxos
Sprecherin (overvoice):
Will die Welt den Frieden brechen, hat sie lauter Krieg im Sinn: Gott hält immer sein Versprechen, da fällt aller Zweifel hin.
Autor:
Angesichts vom 11. September nicht an Gottes Gnadenversprechen zweifeln - wie geht das? Ich bin überzeugt, nicht ohne ein bestimmtes Erinnern.
Vor genau 10 Jahren habe ich Ute Kneisel um ein Erinnerungs-Kunstwerk gebeten. Sie ist Künstlerin und Liedermacherin. Und so hing am 11. September 2011 in einem Gemeindesaal ein Mantel von der Decke, rote Krepp-Papierstreifen floßen aus den Ärmeln, kleine Zeichnungen, die Trauernde darstellen, waren wie Papierrosen auf den Mantel geheftet. Sehr einfach, sehr kindlich. Aber eben gar nicht kindisch. Ute Kneisel, die sich als Künstlerin Illute nennt, hat das Kunstwerk mit einem leisen poetischen Text begleitet, in dem klar wird, was der Mantel ihr bedeutet:
Sprecherin:
kein tag wie die anderen
ich weiß noch genau
wann ich den mantel das erste mal
in den händen hielt
das war am elften september zweitausendeins
in einem secondhandgeschäft
daran erinnere ich mich genauso genau
wie an die offenen münder vor dem
flimmernden fernsehbildschirm
und jetzt so viele jahre später
trage ich ihn immer noch
mein mantel ist schwer
ich trage ihn unter einem großen himmel
und über alldem was war
immer wieder der elfte
immer wieder september
nur die worte dafür
die finde ich nicht
auch wenn er schwer ist der mantel
er trägt sich gut
trägt er so viel zeit
auf seinen schultern
über meinen schultern
hält er mich warm.
Autor:
Gerade weil der alte Mantel so erinnerungsschwer ist, kann er wärmen. Benjamin Schmolck hat einem seiner 16 Liederbücher den wundersamen Titel gegeben „Schöne Kleider für einen betrübten Geist, den Traurigen zu Zion in Form von Liedern überreichet“. Sein Choral, für heute Morgen ausgewählt: vielleicht ist er genau deswegen das wärmende Lieblingslied meiner Urgroßmutter gewesen, weil sie es eben mit kindlichem Ernst und erinnerungsschwer singen konnte.
Musik 1
Sprecherin (overvoice):
Lasst Gotts Antlitz sich verstellen, ist sein Herz doch treu gesinnt und bezeugt in allen Fällen, dass ich sein geliebtes Kind.
Autor:
Sagen dürfen, dass Gott sein Gesicht verstellt, undeutlich macht in den Finsternissen der Welt – so wie an Karfreitag - das vielleicht macht es gerade möglich, den leisen Rhythmus seines liebenden Herzschlags zu vernehmen – so wie an Ostern. In Urgroßmutter Carolines altes Gesangbuch habe ich bei dem Lied ein Foto gelegt: sie mit ihrem Sohn Fritz, der kurz darauf im ersten Weltkrieg gefallen ist. Sie hat ihn einfach weitergeliebt, genau wie ihre anderen Kinder und ihn weiter für ein Kind Gottes gehalten. Sie ist, erinnerungsschwer, weiter „Mütterli“ gewesen für ihre ganze Familie mit unaufgeregter, unaufdringlicher Wärme...
Ach, apropos „Wärme“: neulich traf den Vater von illute. Und er erzählte mir, dass seine Tochter den Mantel immer noch hat, vor genau 20 Jahren gebraucht gekauft.
Ein alter Mantel, der immer noch wärmt. Erinnerungsschwer. Wie ein alter Choral...
Musik 2 (Orgel)
Literatur:
Christian Friedrich David Erdmann:
Schmolck, Benjamin.
In:
Allgemeine Deutsche Biographie
(ADB). Band
32, Duncker & Humblot, Leipzig 1891, S.
53–58.
Benjamin Schmolcks Lieder und Gebete. Eine Auswahl zur häuslichen Erbauung. Nebst einer Biographie des Dichters. Herausgegebn von Ludwig Grote. Leipzig 1860
illute (d.i. Ute Kneisel): Gedicht „kein tag wie die anderen“, Manusskript (Auszug)
Das vollständige Gedicht lautet:
kein tag wie die anderen
dieser mantel den ich trage
ist alt
dieser mantel ist
vom kragen bis zum saum
vom hals bis zum knöchel
großundkleinkariert
dieser mantel ist alt
und ich weiß noch genau
wann ich ihn das erste mal in den händen hielt
das war am elften september zweitausendeins
in einem secondhandgeschäft
daran erinnere ich mich genauso genau
wie an die offenen münder vor dem
flimmernden fernsehbildschirm
und jetzt so viele jahre später
trage ich ihn immer noch
meinen mantel
vom hals bis zum knöchel
mein mantel ist schwer
schwer zu beschreiben
nur wenn ich ihn ausziehe
kommt zum vorschein
was darunter liegt
immer wieder der elfte
immer wieder september
nur in einem neuen licht
im frühling wenn es warm wird
hänge ich ihn an den nagel
und wenn der herbst kommt
schlüpfe ich wieder hinein
in meinen mantel
trage ihn unter einem großen himmel
und über alldem was war
immer wieder der elfte
immer wieder september
nur die worte dafür
die finde ich nicht
und auch wenn er schwer ist
trägt er sich gut
trägt er so viel zeit
auf seinen schultern
über meinen schultern
hält er mich warm
und es scheint mir fast
als sei er immer schon alt gewesen
dieser mantel
den ich trage
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth