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Choralandacht | 29.01.2022 | 07:50 Uhr
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"Der Mond ist aufgegangen" (eg 482)
Autorin: Ich geb`s zu: Ich bin mondsüchtig. Wie vermutlich viele Menschen. Und wer einmal weit abseits von der lauten Großstadt, vielleicht oben auf dem Venusberg oder am Rhein die Sichel des Neumondes erlebt hat, ein Mond-Zwischenstadium oder den prächtigen Vollmond, wird das überwältigende Gefühl kennen, wenn sein Silberstreif die Erde in ein geheimnisvolles Licht taucht…
Ein Gefühl, so alt wie die Menschheit. Und seltsamerweise wird das irgendwie nie altmodisch oder so, dass man sich daran sattsehen könnte.
Niemand hat dieses Gefühl so klar und poetisch in Worte gefasst wie Matthias Claudius, der Dichter des berühmten Abendliedes:
Musik 1: Choral, Strophe 1: Titel: Der Mond ist aufgegangen (eg 482) von CD 5183429.1.15 V, Interpret: Die Singphoniker, Komponist: Schulz, Johann Abraham Peter; Text: Claudius, Matthias; Album: Fragile - A Requiem for Male Voices (Die Singphoniker); LC: 12424-OEHMSCLASSICS; Best.-Nr.: 8173; EAN: 4260034868175
Overvoice-Sprecher:
Der Mond ist aufgegangen
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar:
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Autorin: Gleich in der zweiten Strophe schickt uns der Dichter mit diesem Lied – zusammen mit dem aufsteigenden Dunst des Nebels – weit fort von allem, was wir kennen. Und dann blicken wir – sozusagen auf dem Mond angekommen – wieder zurück auf unsere kleine kostbare Erde. Als wäre unser kleines Erdenleben ein schlafendes Kind in einer Wiege, eine Art Erdenwiege:
Musik 1: Choral, Strophe 2
Overvoice-Sprecher:
Wie ist die Welt so stille,
und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Autorin: Ob 18. oder 21. Jahrhundert: Menschen haben zu allen Zeiten ihren eigenen Kummer. Die meisten von uns könnten ein eigenes Lied davon singen.
Auch dem Dichter selbst waren Sorgen nicht fremd: Er erlebt als Elfjähriger, wie drei seiner Geschwister durch eine Seuche sterben, später stirbt auch sein Lieblingsbruder Josias an den Blattern; als Erwachsener muss er eigene Kinder zu Grabe tragen. Und auch er selbst ist nicht nur einmal dem Tode nahe. Und dennoch, all dieses Leid ist bei ihm aufgehoben in einem grenzenlosen Gottvertrauen; ein Gottvertrauen, das alle Ängste und Sorgen in einem anderen Licht erscheinen lässt, so ähnlich wie der weiße Nebel den schwarzen, schweigenden Wald aus der ersten Strophe durchdringt und das Schwarz milder und heller macht. Und so legen sich Ruhe und Frieden im Schlaf auf das gejagte und durch die Sorgen des Lebens aufgewühlte Menschenherz.
Musik 1: Choral, Strophe 7
Overvoice-Sprecher:
So
legt euch denn ihr Brüder
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch
Verschon uns Gott mit Strafen.
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbarn auch.
Autorin: Da legt einer seine ganze Trauer, seine Sehnsucht, sein Hoffen und sogar sein Mitleid mit dem kranken Nachbarn in die Hände Gottes.
Wir müssen nicht alles, was geschieht, verstehen können. Und daher heißt es in einer Strophe:
Musik 2: Instrumental: Der Mond ist aufgegangen; Komponist: Schulz, Johann Abraham Peter; Interpret: Nils Landgren; Album: Christmas in the Spirit of Jazz; Label: 2021 ACT Music+Vision GmbH+Co.KG; LC: 85387
Autorin (overvoice):
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur hab zu sehen.
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen.
(Strophe 3)
Autorin: Diese andere Hälfte, diese uns unsichtbare Seite des Mondes; für den Dichter bleibt sie geheimnisvoll. Manches nehmen wir nicht wahr, es bleibt verborgen und nicht offensichtlich. Und doch ahnen wir: da ist etwas. Diese andere Seite des Mondes ist für Matthias Claudius der Ort, den wir nie ganz kennen noch vollständig erforschen können, aber auf den es ankommt. Früher hat man Himmel dazu gesagt. Eben da, wo Gott ist.
Wo Gott ist? Vermutlich nicht da, wo viele ihn haben möchten: Als Begleiter und Erfüllungsgehilfe bei den eigenen Wünschen und Lebenszielen. Also, wo ist er?
Hören wir, wie der Dichter sich diesem Geheimnis vorsichtig nähert:
Musik 2: Instrumental
Autorin (overvoice)
Wir stolzen Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, lass uns dein Heil schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
(Strophen 4 und 5)
Autorin: Offensichtlich ist Gott auf der anderen Seite der Luftgespinste und Lebenskünste.
Mein Luftgespinst aus der Kindheit war z.B. eine gute Archäologin in Israel zu werden, die Schätze aus der geheimnisvollen Vergangenheit entdeckt und ausgräbt. Aber wirklich entdeckt habe ich eigentlich nur, dass mein Ziel sich immer wieder meinen Erwartungen entzogen hat: Immer wieder gab es Hindernisse. Dann musste ich einen Umweg nehmen oder es ging gar nicht weiter. Da hat sich mir die Frage nach Gott erst richtig gestellt: Wo ist der Zusammenhang, der Sinn von all diesem Durcheinander aus meinen Wünschen, Sehnsüchten und meinen tatsächlichen Lebenschancen?
Dagegen habe ich an ganz anderer Stelle wahre Schätze ausgraben können: Ein Mensch, der mich auf eine neue Spur gesetzt hat, ein anderer, der meine Hilfe brauchte und mir damit sein Vertrauen aussprach, ein dritter, der mich einfach immer ermutigt hat
Auf der anderen Seite meiner Luftgespinste habe ich das Leben entdeckt.
Musik 1: Choral, Strophe 6
Overvoice-Sprecher:
Wollst endlich unser Grämen
Aus dieser Welt uns nehmen
Durch einen sanften Tod
Und wenn du uns genommen
Laß uns in Himmel kommen,
Du unser lieber Herr und Gott!
Autorin: Sogar der Tod ist für Matthias Claudius nur wie eine Art gesteigerter Schlaf, der untrennbar mit einem Aufwachen bei Gott verknüpft ist. Was für ein Glaube!
Viele singen das Lied abends zum Einschlafen am Bett ihrer Kinder. Vielleicht mit ausgewählten Strophen. Es beruhigt, es stärkt das Vertrauen in Gott. Aber auch Herbert Grönemeyer z.B. hat es am Ende eines Konzertes gesungen. Und sein Publikum, das er damit nach Hause schickt, hat verklärte Augen und ist tief bewegt. Es ist also ein Lied für alle, die Großen und die Kleinen.
Einmal schreibt Matthias Claudius es einem Kommilitonen in dessen Studentenstammbuch. „Das Herz macht groß und klein.“ Und man könnte ergänzen: es macht auch jung und alt und ebenso auch eng und weit, vor allem wenn es um die Hoffnung auf die Zukunft geht.
Übrigens – wenn man in der Sprache der Poesie bleiben will- hat sich diese andere Seite des Mondes schon einmal auf Erden finden lassen; in der Gestalt von Jesus von Nazareth; mit ihm ist ja schon ein Stück Gottesreich angebrochen. Und Matthias Claudius will uns mit diesem Lied vielleicht daran erinnern, dass diese andere verborgene Himmelsseite uns ab und an näher ist als wir denken. In seltenen kostbaren Augenblicken im Leben. Vielleicht könnte der eine oder die andere auch darüber ein eignes Lied singen.
Übrigens: Nächsten Dienstag ist Neumond. Die schmale, silberne Sichel wird zu sehen sein. Und da beginnt sie wieder: Eine neue hoffnungsvolle Runde.
Quellen:
Matthias Claudius. Sämtliche Werke. Winkler Weltliteratur Dünndruckausgabe,
6. Auflage, München (Winkler Verlag) 1987, S.975-983.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth