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Kirche in WDR 3 | 22.11.2022 | 07:50 Uhr
Geht nicht weg!
Das Ereignis Anfang des Jahres hat nicht nur bei mir als Polizeiseelsorger großes Entsetzen ausgelöst. Auch bundesweit hat es viele Menschen verstört: Als nämlich vor zehn Monaten in Rheinland-Pfalz ein Polizist und eine Polizistin erschossen wurden bei einer nächtlichen Verkehrskontrolle. Der Täter hatte vermutlich gewildert und wollte auf diese Weise unerkannt bleiben. Die Anteilnahme an dem Leid der Angehörigen war riesig. Auch die Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland waren schockiert und fassungslos. Einige Tage später stand die gesamte deutsche Polizei still – für eine Schweigeminute im Gedenken an die beiden. Die Bilder von Beamten und Beamtinnen, die schweigend auf Straßen und Plätzen standen, haben mich berührt und überwältigt. An einer Stelle in Bochum konnte ich dabei sein. Ich habe die fragenden, entsetzten und auch wütenden Blicke gesehen. Es tat gut, gemeinsam zu trauern und die Solidarität zu erleben, auch wenn niemand hier in Bochum die Familien und Dienstgruppe in Rheinland-Pfalz persönlich kannte.
Und was mich verwundert hat: In diesen Tagen zeigten sich viele Menschen solidarisch, auch wenn Polizistinnen und Polizisten manchmal unbeliebt oder sogar verhasst sind: Die Besatzungen von Streifenwagen wurden auf der Straße angesprochen, Bürgerinnen drückten ihr Mitgefühl aus und bedankten sich für den Dienst der Polizei.
Immer wenn ein tragisches Schicksal die Öffentlichkeit erschüttert, ist die Anteilnahme groß, beispielsweise bei Naturkatastrophen, schweren Unfällen oder Gewalttaten. Völlig fremde Menschen legen Blumen an den betreffenden Stellen ab und zünden Kerzen an. Damit wollen sie vielleicht auch sagen: Wir tragen eure Trauer mit.
Ganz anders ist es dagegen, wenn ein Mensch ohne großes Aufsehen stirbt. Also ganz normal aufgrund seines Alters, oder in Folge einer schweren Krankheit. Wie oft passiert es, dass sich Bekannte der Angehörigen zurückziehen, weil sie nicht wissen, wie man mit der Situation umgehen soll. Sie schreiben vielleicht noch eine Kondolenzkarte, aber meiden erstmal den direkten Kontakt. Nicht weil sie hartherzig wären oder dieses Schicksal sie gleichgültig ließe. Nein, die meisten sind einfach unsicher, wie sie mit denjenigen umgehen sollen, die zurückbleiben. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, wie sie sich angemessen verhalten sollen. Oder sie erleben Tod und Abschied als so bedrohlich für sich selbst, dass sie dieses Thema lieber verdrängen. Und deshalb bleiben sie einfach auf Distanz.
Dabei habe ich als Seelsorger immer wieder die Erfahrung gemacht: Es ist wichtig, anderen zur Seite zu stehen, wenn sie einen lieben Angehörigen verloren haben. Wenn ich mir vorstelle, dass ich plötzlich ohne Partner oder Partnerin dastünde, ohne Vater oder Mutter, ohne besten Freund oder Freundin, oder sogar ohne mein eigenes Kind, dann brauche ich Menschen, die dieses Schicksal mit mir aushalten. Die einfach da sind, mich in den Arm nehmen, mir die Hand halten, mit mir weinen, mein Klagen und meine Verzweiflung ertragen. Und die mit mir kleine Schritte gehen, in den veränderten Alltag, der jetzt ohne diesen lieben Menschen zu bestehen ist; mir helfen, wieder Vertrauen in das Leben zu fassen.
Um Trauernde zu begleiten, muss man kein Profi sein. Das sagt mir meine Erfahrung als Seelsorger. Wichtig ist nur: Gehen Sie nicht weg. Und greifen Sie nicht auf Floskeln zurück wie „Kopf hoch!“, oder „Das wird schon wieder!“ Es ist normal, nichts sagen zu können oder zu wissen. Das wiederum können Sie dem oder der Trauernden durchaus sagen. Vielleicht so: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann dich nicht trösten. Aber ich bin da.“
Trauernden beizustehen, sie zu trösten ist übrigens eine alte christliche Tugend und gilt als Werk der Barmherzigkeit‘. Und diese Tugend will niemanden überfordern, sondern erwartet: Sei einfach da! Und ich bin mir sicher: Es bereichert auch mein Leben, wenn ich dableibe und nicht weggehe, wo jemand traurig ist oder leiden muss.
Weil ich als Christ glaube, dass Gott alle Menschen liebt, liegen mir die anderen am Herzen. Ich freue mich mit ihnen, und ich weine mit ihnen. Deshalb gehe ich nicht weg.
Dass Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, niemals allein sind, wünscht Ihnen Pastoralreferent Martin Dautzenberg
Jesus überspielt seine Wunden nicht. Er tut nicht so, als sei alles in Ordnung. Doch bevor er ihnen seine Wunden zeigt, sagt er: „Friede!“ Vielleicht sagt er dieses weitende Wort „Friede“ zugleich sich selbst und den anderen. Er öffnet sich, er zeigt sich. So haben auch die anderen die Chance, sich zu öffnen, genauer hinzusehen, sich der Realität ihrer eigenen Wunden und ihres eigenen Anteils an der gemeinsamen Geschichte zu stellen.
Den Weg zum anderen finde ich nur durch die enge Tür meines eigenen Lebens. Nur wenn ich mich selbst gut wahrnehme, kann ich auch andere gut wahrnehmen. In dem Maße wie ich mich selbst verstehe, lerne ich zugleich, andere zu verstehen.
Dank der ruhigen Begegnung mit den Wunden Jesu und ihrem eigenen Anteil freuen sich die Jünger, Jesus wiederzusehen. Und zur Bekräftigung sagt Jesus noch einmal: „Friede mit euch!“ (Vgl. Joh 20,19-21)
Max Frisch prägt in einem seiner Tagebücher für diese Haltung ein treffendes Bild: Dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Lappen ins Gesicht schlagen, sondern wie einen Mantel hinhalten – zum Anziehen!
So können Wunden zu Erkennungszeichen und zu Verbindungszeichen einer innigen Beziehung werden – genau in dem Maß, wie es ein Wachsen in gegenseitiger Sensibilität und Achtung gibt!
Gott, je klarer ich mich selbst erkenne, desto klarer erkenne ich die anderen. Und je tiefer ich mich selbst verstehen lerne, desto tiefer lerne ich die anderen verstehen. In der Bibel lese ich: „Liebe den anderen, denn er ist wie du.“[1] Hilf mir, gerade in belastenden Situationen anderen verbunden zu bleiben. So kann ich wachsen – mit ihnen gemeinsam.
Aus Aachen grüßt Sie
Spiritual Georg Lauscher
[1] Übersetzung nach Martin Buber