„Komm in unsre stolze Welt“ (eg 428)

Musik 1: Komm in unsre stolze Welt (Orgel; Toccata)

Komponist: Manfred Schlenker; Text: Hans Graf Lehndorff; Interpret: Christian Schlicke; Album: Schlenker, Partita für Orgel; Label: unbekannt; LC: unbekannt.

Sprecher: Ich bin so ausgelöscht, dass ich nicht einmal mehr beten kann. …Das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen. … Kann man überhaupt von diesen Dingen schreiben, den furchtbarsten, die es unter Menschen gibt? (1)

Autor: So notiert es Hans von Lehndorff in seinen „Ostpreußischen Tagebüchern“, veröffentlicht 1961. Er berichtet vom Ende des 2. Weltkrieges. Seine Aufzeichnungen beginnen Ende 1944 und gehen bis ins Jahr 47: sie umschreiben Zerstörungen, absichtliches Aushungern, Vergewaltigungen. Dann kann er endlich fliehen. Hinter ihm liegen Monate, in denen er völlige Entrechtung, unfassbare menschliche Grausamkeit erleben musste. Als Arzt hat er mit einigen Freunden versucht, den Menschen medizinisch zu helfen. Immer wieder konnte er auch spontane Aktionen von tiefer Solidarität und Warmherzigkeit erleben. Aber am Ende kann er sich nur durch die Flucht aus dieser Hölle im ehemaligen Ostpreußen befreien. Als er 1967 (2) den Text für das Lied „komm in unsre stolze Welt“ schreibt, das tobt in Vietnam das große Kräftemessen der Weltmächte: ein Stellvertreter-Krieg, der wieder unendliches Leid bringt.

Musik 2: Komm in unsre stolze Welt (Choral)

Komponist: Manfred Schlenker; Text: Hans Graf Lehndorff; Interpreten: Chorgemeinschaft an der Ruhr; Leitung: Karl Heinz Mertens; Choräle für Morgenandachten; Label: Carus; LC: Z2323.

Sprecherin (overvoice): Komm in unsre stolze Welt, / Herr, mit deiner Liebe Werben. / Überwinde Macht und Geld, / lass die Völker nicht verderben. / Wende Hass und Feindessinn / auf den Weg des Friedens hin.

Autor: Komm! – diese eindringliche Bitte steht zu Beginn jeder Strophe. Als Adventslied hat Hans von Lehndorf seinen Text verstanden. Denn im Advent wird daran erinnert, dass der Herr, Jesus, der Sohn Gottes, in diese Welt kommt. Er kommt mit etwas eigentlich Unwiderstehlichem, mit seiner Liebe. Diese Liebe zeichnet sich dadurch aus, dass sie nichts erzwingen will, sondern dass sie nur darauf wartet, auf Resonanz zu stoßen. Menschen sollen reagieren – in völliger Freiheit. Wenn es nicht um Liebe geht, wenn nur das Ergebnis zählt, dann kann ich auch mit anderen Mitteln ein Ziel erreichen. Mit Machtdemonstrationen etwa. Zur Not hilft man mit Geld nach. Entscheidend ist, dass sich die Wirklichkeit fügt. Doch wenn die Wirklichkeit so verbogen wird, dass Menschen sich fügen, dann sind Hass und Feindschaft vorprogrammiert. Damit das alles ein Ende findet, braucht diese Welt nichts dringlicher als das immer neue Umgarnen Gottes. Ja Gott, der Schöpfer dieser Welt, ist sich nicht zu schade, wie ein geprellter Liebhaber da zu stehen. Immer wieder unternimmt er neue Versuche, mit seiner Zuneigung die Menschen zu gewinnen, damit sie endlich begreifen, dass sie Geschwister sind.

Musik 2: Komm in unsre stolze Welt (Choral)

Sprecherin (overvoice): Komm in unser reiches Land, / der du Arme liebst und Schwache, / dass von Geiz und Unverstand / unser Menschenherz erwache. / Schaff aus unserm Überfluss / Rettung dem, der hungern muss.

Autor: Nach wie vor sind es Geiz und Unverstand, die mich davon abhalten, im anderen Menschen meinen Bruder, meine Schwester zu sehen. Dabei wird mir nichts fehlen, wenn aus dem Überfluss unseres Landes andere Menschen versorgt werden. Manchmal erkenne ich, wie wir alle voneinander abhängen, dass zum Beispiel das Wohl und Wehe des Flüchtlings in einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer mit meinen Lebensentscheidungen verknüpft ist. Dann wache ich auf aus einem trügerischen Schlaf von Sicherheit und Abgrenzung. Das gelingt nicht immer. Also: Wie komme ich da hin?

Musik 2: Komm in unsre stolze Welt (Choral)

Sprecherin (overvoice): Komm in unsre laute Stadt, / Herr, mit deines Schweigens Mitte, / dass, wer keinen Mut mehr hat, / sich von dir die Kraft erbitte / für den Weg durch Lärm und Streit / hin zu deiner Ewigkeit.

Autor: Hier, in dieser dritten Strophe ist die Mitte unseres Liedes erreicht – und es ist kein Zufall, dass Hans von Lehndorff jetzt auf die Mitte zu sprechen kommt. Die Mitte, das eigentliche Zentrum dieser Welt, ist für den Glauben Gott selbst. Und dieser Gott hat für uns ein Ziel, nämlich mit ihm zusammen zu sein. Das ist die Ewigkeit. Der Weg durch Lärm und Streit führt hin zu dieser Ewigkeit. Diese Aussicht ist eine Kraftquelle, um den eigenen Lebensweg zu schaffen. Ganz im Sinne Jesu. Er zieht durchs Land, predigt und heilt, und so wird er immer wieder von Menschen bedrängt – sie wollen mehr von ihm, immer mehr. Jesus entzieht sich diesen dröhnenden Anforderungen.

Sprecher: Die Leute strömten in Scharen herbei, um ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden. Aber Jesus zog sich immer wieder in eine einsame Gegend zurück und betete dort. (Lukas 5, 15f nach Basis Bibel)

Autor: So wird es im Lukasevangelium beschrieben und so legt es auch das Lied nahe: wenn du durch die vielen Überforderungen und Missverständnisse deines Lebens hindurch kommen willst, dann brauchst du einen Ort, an dem du zur Ruhe kommen kannst. Dieser Ort ist das Gebet. Du wendest dich Gott zu, weil Gott sich schon längst dir zugewandt hat. Im Gebet, an diesem Ort der Ruhe entdeckst du diesen freundlichen, zugewandten Gott. Und du kannst weiterziehen.

Musik 2: Komm in unsre stolze Welt (Choral)

Sprecherin (overvoice): Komm in unser festes Haus, / der du nackt und ungeborgen. / Mach ein leichtes Zelt daraus, / das uns deckt kaum bis zum Morgen; / denn wer sicher wohnt vergisst, / dass er auf dem Weg noch ist.

Autor: Immer näher kommt der Herr in diesem Lied. Ist er zuerst in die stolze Welt und in unser reiches Land gekommen, so ist er sich nicht zu schade auch unsre laute Stadt aufzusuchen. Warum? Um uns das schwere Leben leicht zu machen. Und so steht er schließlich in unserem festen Haus, um uns herauszulocken. Die selbstgebauten Sicherheiten helfen niemandem – mir am aller wenigsten. Sie schützen mich nicht vor all den Unsicherheiten und Abgründen, die sich in meinem Leben auftun. Aber wenn dieser Herr kommt, der alles leicht und beweglich machen kann, dann zieht er in mein Leben, in meinen Leib, in meine Entscheidungen und Gedanken ein – und es wird hell.

Musik 2: Komm in unsre stolze Welt (Choral)

Sprecherin (overvoice): Komm in unser dunkles Herz, / Herr, mit deines Lichtes Fülle; / dass nicht Neid, Angst, Not und Schmerz / deine Wahrheit uns verhülle, / die auch noch in tiefer Nacht / Menschenleben herrlich macht.

Musik 3: Komm in unsre stolze Welt (Orgel; Fugato)

Komponist: Manfred Schlenker; Text: Hans Graf Lehndorff; Interpret: Christian Schlicke; Album: Schlenker, Partita für Orgel; Label: unbekannt; LC: unbekannt

Autor (overvoive): Wenn dieser Herr in unser Leben kommt, in unsere Welt, unser Land, in unsre Stadt, in unser Haus, in unser Herz, dann hat die Dunkelheit keine Chance.

Musik 3: Komm in unsre stolze Welt (Orgel; Fugato) - Fortsetzung

(1) zitiert nach Hans von Lehndorff in: wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_von_Lehndorff (abgerufen am 29.4.2023)

(2) so K.C. Thust, Lieder des Evangelischen Gesangbuches, Bd. 2, Kassel 2015, zu eg 428, S. 323

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth