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Kirche in WDR 3 | 16.03.2023 | 07:50 Uhr
Verlorene oder geschenkte Zeit
immer wenn ich frühmorgens im Radio die Verkehrsnachrichten höre, denke ich, wie gut, dass du in Soest arbeitest und nicht als Pendler im Großraum Köln oder im Ruhrgebiet zwischen Bochum und Essen unterwegs sein musst. Verkehrs-Stress am frühen Morgen. Dabei sind die Staumeldungen inzwischen immer präziser geworden. In Echtzeitmessung wird einem dann verkündet: Auf der Strecke verlieren Sie 20 Minuten Zeit.
Genau an diesem Satz bin ich letztens hängen geblieben, denn er hat sich scheinbar eingebürgert und kommt immer wieder. Da verlieren Sie Zeit – 10 Minuten, 20 Minuten oder wenn es hochkommt, eine dreiviertel Stunde. Natürlich ist mir klar, was damit gemeint ist: ich muss 20 Minuten mehr einplanen, weil Stau ist oder der Verkehrt nur zähflüssig voran geht. Das ist nervig, das macht Druck, vor allem wenn ich zur Arbeit oder zu einem bestimmten Termin pünktlich sein muss. Vielleicht machen Sie das ja gerade durch und sind genervt? Aber ich frage mich: Verliere ich die Zeit wirklich? Und was meint das eigentlich, Zeit verlieren?
Ich verbinde damit zunächst: Die Zeit kann ich nicht für das nutzen, wofür ich sie eigentlich geplant habe. Das heißt aber auch, dass ich die Zeit nicht produktiv nutzen kann. In unserer schnellen und durchgetakteten Zeit ist das ein echter Verlust, der sich auch in verlorenen Euros niederschlagen kann. Da soll man nicht genervt sein von dem Stau? Und hinzu kommt noch: Wenn ich etwas verliere, bin ich wütend, vor allem wenn mir das Verlorene wertvoll ist. Und Zeit ist sehr wertvoll.
Doch ist das richtig, dass die Zeit verloren ist? Objektiv ist sie doch da. Wie anders würde es klingen, wenn die Sprecherin der Verkehrsnachrichten sagen würde: Da ist eine Baustelle auf der A 40, sie haben jetzt 20 Minuten geschenkte Zeit. Zeit, die ungeplant und erst einmal nutzlos da ist, weil da ein Stau ist. Was verändert das, wenn ich diese Zeit nicht unter dem Etikett „verlorene Zeit“ betrachte, sondern als „geschenkte Zeit“? Ich gebe zu, das erfordert einen gewissen inneren Kraftakt. Aber aus dem Selbstversuch weiß ich, dass diese Umetikettierung möglich ist, – jedenfalls dann, wenn die Auswirkung einer Verspätung nicht zu gravierend ist. Und dann ist es eine positive Veränderung, denn es ist ja ein Geschenk.
Was mache ich mit diesem Geschenk? Ich selbst mache dann erst einmal nichts. Vielleicht halte ich bewusst inne und betrachte die Menschen und die Gegend um mich herum genauer. Ja – und ich gehe dann auch schon mal ins Gebet. Warum nicht die geschenkte Zeit demjenigen widmen, der meine Zeit in seinen Händen hält? So formuliert das jedenfalls einmal ein Psalm in der Bibel.
Das Wichtigste an geschenkter Zeit ist wohl, dass ich eine Offenheit erhalte für das, was um mich herum geschieht und auch in mir. In beidem kann Gott mir begegnen. Das ist kein bloßer Trick, das ist eine veränderte Haltung, die ich üben kann und mit der ich nicht nur ein Stück gelassener werde, sondern auch aufmerksamer für Gottes Gegenwart in meinem Leben.
Wenn also nachher in den Verkehrsnachrichten wieder die verlorene Zeit minutengenau berechnet wird, wie wäre es dann, bei sich zu denken: hier geht nichts verloren. Es ist geschenkte Zeit, in der ich einfach sein kann und vielleicht sogar in Verbindung mit meinem Gott trete. Und dann ist sie doch gut genutzt, meint Propst Dietmar Röttger aus Soest.