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Kirche in WDR 3 | 27.04.2023 | 07:50 Uhr
Erschöpfung
Das wusste Michael auch nicht. Er wusste einfach
nicht, was mit ihm los war. In den letzten Jahren lief er beruflich immer auf
Hochtouren, hat für seine Firma und Familie alles gegeben. Ganz plötzlich kam
dann diese totale Müdigkeit, die Unfähigkeit sich zu konzentrieren. Selbst das
Ausräumen der Spülmaschine wurde zur Prüfung.
Zusammen mit seinem Rückzug aus dem Beruf,
musste er sich auch aus dem Privatleben praktisch verabschieden. Bowling, im
Chor singen, selbst nur ins Kino zugehen, das alles überstieg seine Kräfte –
körperlich und mental.
Trotzdem war Michael anfangs noch voller Hoffnung, bald wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Hatte auf das Verständnis seines Chefs und der Kollegen gehofft, die in diesen Wochen seine Arbeit auffingen. Die Aussicht auf die Rückkehr ins normale Leben war für ihn ein Halt sich jeden Tag neu zu motivieren. Eben doch noch jeden Morgen einen Kaffee zu kochen, die Schuhe anzuziehen und seine Runden durch den Ort und den Park zu drehen, um möglichst schnell sein Gleichgewicht im Leben zurückzugewinnen. Und dann kam diese Nachricht von der Kündigung wie ein Schlag ins Gesicht. In einem fünf Minuten Gespräch wurden ihm die Füße unter dem Boden weggezogen, sagt er.
Michael ist mit seiner Geschichte kein Einzelfall – im Gegenteil: Die Zahl der chronisch erschöpften Frauen und Männer und sogar von Kindern und Jugendlichen steigt - erst recht durch der Corona-Pandemie. Die Diagnose aber ist leider schwierig. Long Covid? Chronisches Erschöpfungssyndrom? Burn Out? Depression? Eine Mischung aus allem? Michael hat eine Ärzte-Odyssee mit vielen möglichen Diagnosen durchlaufen; die Krankenkasse schickte ihn von Pontius zu Pilatus. Aber Heilung, Rückkehr ins Leben, hat er dort bisher nicht gefunden.
Ich spreche in unregelmäßigen Abständen mit Michael. Frage kurz, wie es ihm geht, lange Gespräche gehen noch nicht. „Noch nicht“, betont er und erwähnt die Therapie, die er zur Zeit macht und die ihm gut tut. Er hat sich selber weiter Hilfe gesucht, gibt nicht auf. Aber er macht auch deutlich, wie wichtig es ist, dass auch die Menschen um ihn herum ihn nicht aufgegeben – so, wie sein Arbeitgeber. Das war es, was ihn in seiner ganzen Leidenszeit bisher am meisten verletzt und zurückgeworfen hat.
Warum ich heute morgen von ihm erzähle? Weil Michael
trotzdem heute morgen aufgestanden ist. Weil er trotz der übergroßen Müdigkeit
und trotz der Perspektivlosigkeit seinen Kaffee gekocht hat und gleich seine
Schuhe anziehen wird, um durch den Ort und den Park zu gehen. Und weil er einer
von vielen ist, die vielleicht unbemerkt, untergetaucht in unserem Umfeld
leben. Es sind die, von denen wir dann sagen „ach, von dem habe ich aber lange
nichts gehört“. Ich erzähle von Michael, weil ich sein soziales Netz großartig
finde. Das hat ihn die ganzen Monate getragen. Und ich erzähle von Michael, weil
ich sein Durchhaltevermögen bewundernswert und ermutigend finde. „Vielleicht“,
sagt er, „schreibe ich mal ein Buch über diese Zeit.“ Er schafft sich selbst
seinen Silberstreif am Horizont, für den es sich lohnt zu kämpfen.
Ich bin Martin Kürble und wünsche ihnen aus Düsseldorf heute einen Tag, an dem sie ihre Kraft spüren. Bleiben Sie behütet.