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Kirche in WDR 3 | 07.06.2023 | 07:50 Uhr
Eine Naturmystik der geschlossenen und offenen Augen
Der Trappistenmönch Thomas Merton war ein begnadeter Schriftsteller und
dem interreligiösen Dialog und der gewaltfreien Aktion verbunden.
Als er in seiner Einsiedelei nachts dem Regen
lauscht, macht er eine mystische Erfahrung:
Sprecher:
„Die Nacht wurde sehr dunkel. Der Regen umgab die ganze Hütte …, eine ganze Welt voller Geheimnis … Stell dir vor: All dieses Reden strömt herunter, verkauft nichts, beurteilt niemanden … Was für ein Zustand ist das, völlig allein dazusitzen, im Wald, nachts, genährt von diesem wunderbaren, unbegreiflichen, absolut unschuldigen Gerede, der tröstlichsten Sprache der Welt, der Unterhaltung, die der Regen von selbst macht …“[1]
Mystik hat mit Mysterium zu tun, mit dem Geheimnis der Wirklichkeit. Wenn ich mit allen Sinnen inmitten der Natur, die mich umgibt, da bin, kann sich mir eine tiefere Kommunikation öffnen: Noch nie hatte ich nächtlichen Regen so wahrgenommen! Die Dunkelheit reduziert das äußere Erkennen und schärft die inneren Sinne.
Mystik leitet sich ab vom Griechischen myein: die Augen schließen. Der Alltag fordert mich in der Wahrnehmung nach außen. Da bleibt die intuitive, ganzheitliche Wahrnehmung oft unterentwickelt. Sie ist ausgeblendet. In der Nacht, oder wenn ich die Augen schließe, kann ich über mein Oberflächenbewusstsein hinaus beziehungsfähiger werden zur Tiefe und Weite der Wirklichkeit. Ich entdecke: Die Wirklichkeit ist mehr als das, was ich sehe und denke. Die Quantenphysik lehrt, dass die Wirklichkeit im Tiefsten ein nicht fixierbarer, dynamischer Beziehungsreichtum ist, für den all unsere Worte nur brüchige Bilder sind.
Mit der Wirklichkeit der Natur ist es wie mit Gott: All unsere Vorstellungen sind nur brüchige Bilder. Wir brauchen diese Bilder wie wir Hinweisschilder brauchen. Sie sollen helfen, einen Weg ins geheimnisvolle Dunkel zu ertasten – über unser Erkennen- und Fassen-Können hinaus …
Um dann wieder die Augen zu öffnen und die Natur und alles Leben in einem neuen, tieferen Zusammenspiel wahrzunehmen.
In diesem Sinne verstehe ich ein Jesuswort, das außerhalb der Bibel überliefert ist: „Spaltet ein Stück Holz, ich bin da. Hebt einen Stein auf, ihr werdet mich dort finden.“[2]
Gott, Du bist für mich das lebendige Geheimnis, das alles, was ist, durchdringt und umgibt. Das erfahre ich besonders, wenn ich in der Natur zur Ruhe komme und ganz aufmerksam da bin. Dann beglückt mich Deine Gegenwart, und ich bin ganz außen und bin ganz innen und bin mittendrin in einem unfassbaren Beziehungsreichtum.
Aus Aachen grüßt Sie
Georg Lauscher.
[2] Thomas-Evangelium, Logion 77. Zit. nach: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften,
übersetzt und
kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Leipzig 52001,
663.