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Kirche in WDR 3 | 11.08.2023 | 07:50 Uhr

Verpasste Chance

Guten Morgen.


Dem Chirurgen Dr. David A. wird die Arztzulassung entzogen (1). Er hat einen Patienten auf dem Operationstisch liegen lassen. Die Wirbelsäulenoperation beginnt um 9.20 Uhr mit der Einleitung der Narkose. Der erste Schnitt wird gegen 11 Uhr angesetzt. Während der Operation bittet der Chirurg wiederholt eine Krankenschwester, in seinem Büro anzurufen. Sie soll dort nachfragen, ob sein Gehaltsscheck bereits angekommen ist. Um 17.30 Uhr – der Eingriff ist noch nicht abgeschlossen – betritt ein anderer Arzt den Operationssaal und übergibt dem Chirurgen einen Umschlag mit dem Scheck. Der bittet seinen Kollegen, fünf Minuten zu warten, während er eine Pause macht. Doch zehn Minuten später wartet der Kollege noch immer. Wiederholt versucht das Operationsteam, den Chirurgen mithilfe seines Funkempfängers zu erreichen. Doch ohne Erfolg. Erst nach fünfunddreißig Minuten kehrt der Operateur zurück. Seine Begründung: Er habe vor Schließung der Bank noch den Scheck einlösen müssen, weil er überfällige Rechnungen zu bezahlen habe.

Der Chirurg stellt seinen persönlichen Vorteil über das Wohl eines Menschen, der sich ihm anvertraut hat. Mein erster Impuls ist: Dieser Arzt muss bestraft werden. Doch beim zweiten Nachdenken fällt mir ein Satz aus dem Markus-Evangelium ein, den Jesus Christus gesagt hat: „Liebe deinen Mitmenschen, liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Markus 12, 31, Basis Bibel). Und an dieser Stelle betrachte ich mich wie in einem Spiegel, indem ich auch mich fragen muss: Habe ich selbst meinen Nächsten, meine Mitmenschen immer im Blick? Kann ich diesem Maßstab standhalten? Oder schaue auch ich nur auf das, was für mich allein wichtig ist, was zu meinem Vorteil dient? Welchen Gewinn ich daraus ziehen kann? Und dann werde ich schon etwas vorsichtiger in der Verurteilung des Chirurgen. Klar – wenn einer in Not ist und meine Hilfe braucht, dann möchte ich eigentlich dem uralten christlichen Gedanken der Nächstenliebe entsprechen. Doch das funktioniert leider nicht immer und hat eine Menge mit meinem Lebensrhythmus zu tun. Das zeigt auch das interessante so genannte Samariter-Experiment: Man hat dazu zwei Gruppen von Prüflingen kurz vor dem Examen versammelt. Der einen Gruppe erzählt man: „Ihr habt noch genügend Zeit auf dem Weg in den Prüfungsraum.“ Das entspannt. Den anderen wird vermittelt: Ihr seid viel zu spät dran. Das stresst. Dann hat man beiden Gruppen einen - natürlich nur gespielten - Verletzten auf den Weg gelegt. Und siehe da: Die Gestressten eilen fast alle achtlos an dem hörbar Leidenden vorüber. Die Entspannten versuchen zu helfen. Das Fazit des Experiments: Wer ein hohes Lebenstempo hat, sieht die Not des anderen nicht mehr. Ja – ich fühle mich aufgefordert, in meinem Alltag immer wieder innezuhalten. Ich möchte wahrnehmen, wo ich dringend gebraucht werde. Und wo ich vielleicht dazu beitragen könnte, die Not meines Nächsten zu lindern. Vielleicht gelingt es auch Ihnen heute, Ihr Lebenstempo ein wenig mehr zu reduzieren. Und besser zu erkennen, wo Sie gebraucht werden.


(Ende WDR 4 und Verabschiedung WDR 3 und WDR 5)

Das wünscht Ihnen Prädikant Werner Brück aus Remscheid.



Quellen:

(1) Arak, Joel, Doc Leaves Patient To Deposit Check, CBS News, 8.8.2002, https://www.cbsnews.com/news/doc-leaves-patient-to-deposit-check/#:~:text=Dr.,later%20and%20completed%20the%20operation (zuletzt abgerufen am 03.07.23)


(2) https://krankenhausberater.de/impuls/news/die-samariter-studie-der-einfluss-von-stressoren/ (zuletzt abgerufen am 03.07.23)



Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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